Mösers Meinung: Über die Weihnachtsscham

“O wenn doch erst Ostern; wenn nur erst der lange Winter vorüber seyn möchte! Sagte im vorigen Herbste ein Heuermann zu mir, der für sich, seine Frau, und sieben Kinder, nicht so viel geerndtet hatte, als er bis Martini gebrauchte; dem sein gesaeter Lein nicht aufgegangen war, und den die vorjährige Theurung bereits außer Stand gesetzt hatte, seinem Wirthe die letztverschiedene Heuer zu bezahlen.

Nun sprach ich gestern zu ihm: Ostern ist da und der lange Winter vorüber, und ich sehe, ihr lebt doch noch mit eurer Frau und allen euren Kindern; ich glaube zwar wohl, ihr habt euer Brod sauer erworben, aber es wird euch auch nie so gut geschmeckt haben, als diesen Winter, da es das rareste war, was ihr hattet.

Ja wohl ist es mir sauer geworden, antwortete er; Sie sehen meine ganze Hütte ledig, meine Frau und Kinder nackend, und mich entkräftet; so sauer ist es uns geworden. Das Flachs was wir noch hatten, war halb aufgesponnen; das Pfund Brot galt ein Stück Garn, und unser waren nur drey die spinnen konnten, und neune die essen wollten. Zur Arbeit außer dem Hause war keine Gelegenheit, und wie Weihnachten heran kam, war unser Flachs versponnen und verzehrt; ach, ihr traurige Weihnachten! Meine Frau hatte ihre Röcke und Mützen bereits versetzt; wir konnten nicht zu Gottes Kirchen gehn. Somit war nichts im Hause, woraus wir einiges Geld hätten lösen können, außer einer Kuh; ich wollte sie wegführen sie zu verkaufen. Aber meine Frau und Kinder hielten sie fest umarmt, und wir schrien alle und standen so eine lange traurige Weile. Endlich gieng ich fort, um den Jammer nicht länger zu erleben. Ich gieng zwey Stunden in der Absicht, die Meinigen nicht hungers sterben zu sehen. Aber es war immer als wenn mich sechs Pferde zurück zogen; ich mußte wieder zu den Meinigen; und nun kam ich einen aufgefülleten Backofen vorüber, und die Noth, der süsse Geruch und die Gelegenheit machten mich zum Diebe. So sauer ist es mir geworden; bey diesem gestohlenen Brodte feierten wir unser Christfest. Aber nun stand ich des Morgens vor Tage auf, nahm meine Kuh, und brachte sie dem Manne, welchem ich das Brod gestohlen hatte. Mit tausend Thränen bekannte ich ihm meine That, und der Mann, den ich als einen harten und geitzigen Mann gekannt hatte, gab sie mir wieder und einen Scheffel Rocken dabey. Seitdem hat mir mein Wirth, dem ich die vorjährige Heuer noch schuldig bin, und den ich vorhin nicht ansprechen mochte, weil er selbst nichts übrig hat, außgeholfen. Ach Herr, es giebt doch noch Mitleiden in der Welt, es giebt noch heimliche Tugenden, die man nur zur Zeit der Noth erkennt!”

(aus: Die moralischen Vortheile der Landplagen)

Guten Abend,

so kurz vor Weihnachten möchte ich die geneigte Leserschaft nicht mit allerlei moralischen Zeigefingern langweilen. Aber wie schon vor 250 Jahren sollten wir uns nicht zu schade sein, das sogenannte Fest der Liebe zu nutzen und ein wenig innezuhalten, um unser Verhalten selbstkritisch zu hinterfragen. Haben wir wirklich alles getan, um den Planeten zu retten? Haben wir wenigstens auf Plastiktüten verzichtet und so wenig Fleisch wie möglich gegessen? Haben wir eifrig das Fahrrad benutzt und uns in vorauseilendem Gehorsam schonmal für Elektroautos interessiert? Haben wir Verständnis für die Osnabrücker Verkehrspolitik gezeigt und sind wir uns bewußt gewesen, daß jede Baustelle und jeder unnötige Stau nur zu unserem Besten ist und eine erzieherische Maßnahme darstellt, die einer lebenswerteren Zukunft dient? Haben wir gut über a. unsere Bundesregierung b. Greta Thunberg und c. den Osnabrücker Baudezernenten geredet? Werden wir auch im nächsten Jahr trotz aller Aussichtslosigkeit dafür kämpfen, daß der Neumarkt endlich für den Autoverkehr gesperrt wird? Wenn die geneigte Leserschaft all diese Fragen mit einem herzhaften Ja beantworten kann, dann bin ich guter Dinge, daß wir nach wie vor in einem tollen Land und in einer noch tolleren Stadt leben, wo der engagierte Bürger seine beste Zeit noch vor sich hat. Falls Sie allerdings andere Sachen für dringlicher halten, zum Beispiel die nackte Existenzsicherung oder das Streben nach ein bißchen persönlichem Glück und Spaß, dann seien Sie dieses Weihnachtsfest wenigstens so verantwortungsbewußt und empfinden ein wenig Scham ob ihres Anteils an all dem Elend auf der Welt. 

Manchmal habe ich den Eindruck, daß es uns wirklich ein Stück zu gut geht, um unsere eigentlichen Probleme zu erkennen. Das birgt die Gefahr der Blindheit gegenüber den tatsächlichen Herausforderungen der Zukunft.

Ich wünsche allen HASEPOST-LESERN ein frohes Weihnachtsfest!.

Ihr

Justus Möser

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Justus Möser
Justus Möser
Justus ist unser "ältester Mitarbeiter", seit 1720 wandelt er durch unsere Stadt - wobei er inzwischen eher "geistert". Sein Vertreter in der Gegenwart ist unser Autor Wolfgang Niemeyer, der sich in dieser Kolumne regelmäßig darüber Gedanken macht „was würde Möser dazu meinen“?

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