Kommentar: Wehr- oder Dienstpflicht? Eine schlechte Idee

Soldaten der Bundeswehr am Bahnhof (Symbolbild)

Nach dem russische Überfall auf die Ukraine steht Deutschland unter Schock. Politik und Medien sprechen von einer „Zeitenwende“ und die Regierung stellt spontan ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro (mehr als 500.000 Euro pro Soldat) für die Bundeswehr bereit. Auch ein überwunden geglaubtes Relikt des Kalten Krieges taucht wieder in der Debatte auf: die Wehrpflicht.

Doch die Wiedereinführung einer Dienstpflicht wäre unnütz, übergriffig und gefährlich, findet HASEPOST-Redakteur Lukas Brockfeld.

Vorweg: Ich selbst war nicht mehr von der Wehrpflicht betroffen. Trotzdem habe ich nach dem Abitur ein Jahr Bundesfreiwilligendienst geleistet. Obwohl mich meine Dienststelle häufig für die Arbeiten ausnutzte, die sonst keiner machen wollte, half es mir meinen Horizont zu erweitern und erwachsener zu werden. Ein Wehr- oder Freiwilligendienst ist eine tolle Sache, aber ich lehne die Pflicht dazu entschieden ab.


Neben Lukas Brockfeld, der sich in seinem Kommentar gegen eine neue Wehr- bzw. Dienstpflicht ausspricht, hat auch Heiko Pohlmann einen Kommentar dazu verfasst. Er ist ganz anderer Meinung und für eine neue Wehr- bzw. Dienstpflicht. Beide Autoren haben – bis auf das Intro – ihre Texte unabhängig voneinander verfasst. Hier geht es zum Kommentar von Heiko Pohlmann.


Erhebliche Grundrechtseinschränkungen

„Wehrpflicht“, „Dienstpflicht“ oder „Gesellschaftsjahr“ – diese Begriffe klingen harmlos und vertraut. Dabei wird gerne vergessen, dass sie einen erheblichen Eingriff in die eigentlich unveräußerlichen Grundrechte eines Menschen bedeuten. Freie, volljährige und unbescholtene Bürger werden zu Zwangsarbeit verpflichtet. Das klingt drastisch, dürfte von den Betroffenen aber genau so empfunden werden. Umfragen zeigen immer wieder, dass eine Wehr- oder Dienstpflicht zwar von älteren Menschen begrüßt wird, aber bei den unter 30-Jährigen auf breite Ablehnung stößt. Kein Politiker würde es wagen, einen Pflichtdienst zum Renteneintritt zu fordern, doch die Freiheit eines 18-Jährigen ist genauso schützenswert wie die eines 60-Jährigen. In einer Demokratie sind Grundrechte keine von Vater Staat gewährten Privilegien und dürfen nur in Ausnahmefällen angetastet werden. Ob die russische Invasion der Ukraine einen solchen Ausnahmefall für Deutschland darstellt, ist nicht nur juristisch fraglich.

Wehrpflichtige behindern Bundeswehr

Die Bundeswehr ist im Augenblick gar nicht in der Lage, tausende Wehrpflichtige aufzunehmen, da die benötigte Infrastruktur seit zehn Jahren nicht mehr vorhanden ist. Es fehlt an Ausbildern, Kasernen, Uniformen, Betten und Waffen. Die deutschen Streitkräfte schaffen es kaum, ihre vorhandenen Soldaten angemessen auszurüsten. Es ist bereits eine Herkulesaufgabe, die jetzigen Defizite der Bundeswehr zu bewältigen, Kanzler Scholz stellt dafür immerhin 100 Milliarden Euro bereit. Die Aufnahme zehntausender Wehrpflichtiger wäre eine weitere Belastung für die gebeutelte Truppe. Der Generalinspekteur der Bundeswehr lehnt sie aus gutem Grund ab.

Kaum militärischer Wert

Wehrpflichtige zeichnen sich durch mäßige Ausbildung und Motivation aus. Sie dürfen laut Gesetz nicht in einem anspruchsvollen Auslandseinsatz wie in Afghanistan eingesetzt werden und wären dafür auch völlig ungeeignet. Die modernen Waffen des 21. Jahrhunderts setzen eine lange und anspruchsvolle Ausbildung voraus. Kriege werden heute eher durch Drohnen als durch Infanteristen entschieden. Auch Russland erlebt in der Ukraine den geringen militärischen Wert der Wehrpflichtigen. Putin schickt tausende junge Rekruten als Kanonenfutter an die Front. Bisher fallen sie vor allem durch Inkompetenz und Desertion auf. Die Wehrpflicht würde viele neue Probleme für die Bundeswehr schaffen, aber kaum ihre Schlagkraft erhöhen.

Sozialverbände gegen Dienstpflicht

Auch die Sozialverbände, die eigentlich von einem zivilen Pflichtdienst profitieren sollen, blicken skeptisch auf derartige Ideen. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, sagte zum Beispiel 2019 in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland: „Der Paritätische lehne eine allgemeine Dienstpflicht für den sozialen Bereich ab. Soziale Einrichtungen und die Menschen, die dort betreut und gepflegt werden, wollen keine zwangszugeführten jungen Menschen, sondern echte, motivierte Freiwillige. Wer sich mit Kindern beschäftigen möchte, mit Pflegebedürftigen oder mit behinderten Menschen, muss dies wirklich wollen, braucht Empathie, muss Freude in der Tätigkeit empfinden. Alles andere wäre eine Zumutung für alle Beteiligten.“ Schneider befürchtet, ein Zwangsdienst würde dazu missbraucht, Personalprobleme etwa in der Pflege zu lösen. Die Milliarden, die ein Pflichtdienst kosten würde, könnten besser direkt in soziale Einrichtungen investiert werden.

Dienstpflicht schädigt unsere Gesellschaft

Eine Dienstpflicht wird oft damit begründet, dass sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken und Jugendliche von ihrem angeblichen Egoismus heilen könne. CDU-Vize Carsten Linnemann klagte unlängst: „Es gibt eine Polarisierung in Deutschland, es gibt mehr Ich-Bürger als Staatsbürger, auch hier und da erlebe ich eine soziale Kälte.“ Linnemanns Antwort auf das angebliche Problem: Eine allgemeine Dienstpflicht. Wer das ernsthaft für eine gute Idee hält, sollte sich kurz in einen heutigen Teenager hineinversetzen:

Junge Menschen lieben die Freiheit. Das zeigen nicht nur zahlreiche Studien und die erstaunlichen Wahlerfolge der FDP, es liegt auch in der Natur der Jugend. Ein heute 16-Jähriger hat praktisch seine gesamte Pubertät im Lockdown verbracht. Zwei Jahre lang – in dem Alter eine gefühlte Ewigkeit – war ihm fast alles verboten, was Jungsein ausmacht. Es ist zu befürchten, dass ein Pflichtdienst das ohnehin belastete Vertrauen der Jugend in unsere Gesellschaft weiter beschädigt. Nach der Schule wartet nicht die lang entbehrte Freiheit, sondern Entrechtung und Zwang. Die dienstpflichtige Corona-Generation erlebt in ihrer prägendsten Lebensphase keine schützenswerte freiheitlich-demokratische Grundordnung, sondern einen übergriffigen Staat, der sie nach Belieben herumschubst. Für das gesellschaftliche Miteinander der Zukunft wäre das brandgefährlich.

Schlechte Idee aus dem vergangenen Jahrtausend

Eine Wehr- oder Dienstpflicht löst nicht die Probleme der Bundeswehr und auch nicht den Notstand in der Pflege. Jugendliche, die es in den vergangenen Jahren schwer genug hatten, würden entrechtet und schlimmstenfalls gegen unsere Gesellschaft aufgebracht. Der Pflichtdienst ist eine schlechte Idee aus dem vergangenen Jahrtausend, dort sollte er auch bleiben.

–> Hier geht es zur “anderen Meinung”: Pro Dienst- bzw. Wehrpflicht.


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„Denken ist schwer, darum urteilen die meisten“ (C. G Jung).
Bitte denken Sie mehr, Ihr Heiko Pohlmann.


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Lukas Brockfeld
Lukas Brockfeld
Lukas Brockfeld ist seit dem Sommer 2019, erst als Praktikant und inzwischen als fester Mitarbeiter, für die Redaktion der HASEPOST unterwegs.

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