Kommentar: Die Harmoniesucht im Stadtrat ist das eigentliche Gift der Demokratie

Kompromisse, gegenseitige Wertschätzung – und wenn es zur Abstimmung kommt, wird doch nur bestätigt, was zuvor schon im Hinterzimmer besprochen und geklärt wurde. Im Osnabrücker Stadtrat wird nicht mehr gestritten. Dafür hat man sich zuletzt beim Handgiftentag ganz besonders freundlich auf die Schulter geklopft.

Manch ein Beobachter mag das begrüßen, aber ist das die richtige Politik für Osnabrück? Insbesondere dann, wenn “neue Spieler” mit scheinbar einfacheren und besseren Rezepten in Form der AfD, der Werteunion und der Wagenknecht-Partei sich aufmachen die kommenden Wahlen zu gewinnen – zumindest in größerem Umfang in die Parlamente einzuziehen?

Ein Kommentar von Heiko Pohlmann

Ein kluger Kopf, den ich persönlich und fachlich als Journalist sehr schätze, schrieb in der Tageszeitung NOZ einen bemerkenswerten Kommentar, der leider hinter einer Bezahlschranke vor einem größeren Leserkreis versteckt wird: “Osnabrück ist anders: Die Friedensstadt ist (noch) immun gegen das Gift der Demokratiefeinde“.

Auch wenn diesen Kommentar, sofern die Bezahlschranke nicht angehoben werden sollte, nicht viele unserer Leserinnen und Leser gelesen haben mögen, möchte ich trotzdem mit einem eigenen Kommentar dagegenhalten – was ein Novum in der bald zehnjährigen Geschichte der HASEPOST ist.
Ich tue das nicht um den geschätzten Kollegen in seiner Ansicht zu schmähen oder mit aus dem Kontext gerissenen Zitaten einen falschen Eindruck zu schüren – auf dieses Niveau mögen sich andere begeben.
Nein, ich würde mich wirklich sehr freuen, dass wer kann, zusätzlich den lesenswerten Kommentar bei der NOZ liest!
Die Wahrheit, wenn es sie denn überhaupt geben sollte, liegt auch hier vermutlich irgendwo in der Mitte.

Da man bei uns nur über Facebook kommentieren kann, würde ich mich dort sehr über sachliches Feedback freuen, vor allem von denen, die beide Meinungsbeiträge gelesen haben. Wo liege ich falsch oder was sieht der Kollege besser als ich?

Zu viel Harmonie bereitet das Feld für extreme Positionen

Ich bin also jedenfalls ganz anderer Meinung. Die derzeitige Politik der übergreifenden Harmonie im Stadtrat macht Osnabrück eben nicht immun gegen “Demokratiefeinde”, sie befördert ihren Aufstieg nach meiner Ansicht sogar, da dieses “Harmonie-Parlament” die eigentlichen Probleme der Stadt nicht in Angriff nimmt.

Denn es ist nach meiner Überzeugung der falsche Weg, wenn sich Politiker von hart links (Linkspartei/Wefel) über Grüne, Volt, SPD bis hin zur CDU immer wieder und längst nicht nur beim Handgiftentag versichern, wie gut sie doch miteinander auskommen.
Dass dabei dann auf die scheinbar einzigen verbliebenen Andersdenkenden von FDP/UWG und BOB – und natürlich dem einsamen AfD-Vertreter – auch noch herabgesehen wird, macht es nicht besser. Manch eine gute Idee oder zumindest ein Impuls die eigene Position zu überdenken, bleibt so aus grundsätzlichen Überlegungen unbeachtet (Motto: “Kommt es nicht von uns, darf es nicht gut sein”).

Osnabrücker CDU verweigert die Oppositionsrolle

Dabei habe ich überhaupt nichts gegen “gut miteinander auskommen”, das sollen und das müssen unsere Lokalpolitiker auch. Schließlich opfern sie dafür ihre Feierabende und viele Wochenenden.
Aber bitte zelebriert diese Harmonie dann “nach” der Ratssitzung, vielleicht im Ratskeller oder der Grünen Gans in unserer schönen Altstadt – nur eben nicht im Ratssitzungssaal.
Hört endlich mit dieser ewigen Harmoniesucht auf, die ich in einem anderen Kommentar zur Rolle der CDU in den Haushaltsberatungen schon mal als “Stockholm-Syndrom” bezeichnet habe. Es ist vor allem die Osnabrücker CDU, die mit der Verweigerung der Oppositionsrolle dafür sorgt, dass es keine klaren Gegenentwürfe mehr zur grün dominierten Mehrheitsgruppe mit Volt und SPD gibt.

Neumarkt-Frieden und Haushalts-Harmonie entstanden hinter verschlossenen Türen

Vor allem: Diese Harmonie ist ja nur simuliert und aufgesetzt, fast schon Folklore. Weil die Alternativen und Gegenentwürfe fehlen, fehlen auch die öffentlichen Debatten im Wettstreit um das beste Interesse für die Stadt. Es wird lediglich “verhandelt” und “gehökert”; vorzugsweise unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Der vielgerühmte “Neumarkt-Frieden” und auch die ach so tollen Kompromisse beim Haushalt, wurden alle hinter verschlossenen Türen verhandelt. Die Ratssitzungen waren dafür nur noch eine Showbühne!
Ein gutes Stück der angeblichen Harmonie ist nur die Verschleierung der Tatsache, dass man lieber unter sich Absprachen trifft, statt öffentlich darum zu ringen und darüber zu debattieren.

Als Bürger dürfen wir aber erwarten, dass solche Entscheidungen im Wettbewerb der Argumente und in aller Öffentlichkeit entwickelt und entschieden werden. Dazu müsste aber im Stadtrat tatsächlich wieder mehr gestritten werden – und es müsste von den einzelnen Ratsmitgliedern auch der Mut aufgebracht werden nach ihrem Gewissen und unter Abwägung aller vorgebrachten Argumente individuell zu entscheiden, nicht nach Parteibuch und nicht erst nach einem bangem Blick auf den jeweiligen Fraktionsvorsitzenden, der keine Abweichler duldet.

Würde ergebnisoffen gestritten, wäre uns einiges erspart geblieben

Im offenen Wettstreit der Ideen und Argumente können die wirklichen Probleme der Stadt gelöst werden: Neumarkt, Johannisstraße, Ladensterben, Wohnungsnot und Verkehr, um nur eine kleine Auswahl zu nennen.
Und so wären uns vermutlich einige peinliche “Errungenschaften” der vergangenen Jahre erpart geblieben. Ich nenne nur mal den gelben “Spielplatzkäfig” im Schlossgarten, Fahrradabstellanlagen, die niemand nutzt, und die absurde Demontage des Osnabrücker ÖPNV, trotz völlig anders klingender Lippenbekenntnisse von einer angeblichen Verkehrswende. Das hat alles ohne großen Widerspruch die Ratssitzungen passiert und jetzt, wo wir den Schlamassel haben, wird auch nicht diskutiert, wie es dazu kommen konnte.

Nun aber zu den vermeintlichen Demokratiefeinden, die es bislang noch nicht ins Rathaus geschafft haben. Der Stadtrat besteht tatsächlich, sieht man von zwei Linken, je einem Vertreter von Volt und AfD, sowie dem lediglich durch gelegentliche Zwischenrufe auffallenden Spaßkandidaten Kalla Wefel ab, zu 90% tatsächlich nur aus dem, was die neuen Herausforderer abschätzig als “Altparteien” bezeichnen.

Ich glaube nicht, dass das lange so bleiben wird. Und ich glaube, dass die Harmonie- und Gefallsucht im Osnabrücker Stadtrat nicht nur den weiteren Stillstand in Osnabrück befördert, sondern entscheidend dazu beitragen wird, mit welcher Stärke die neuen Herausforderer mit ihren angeblich einfachen Lösungen bei der nächsten Kommunalwahl Plätze der bisherigen Zauderer übernehmen werden.

Streitet endlich um die besten Lösungen für Osnabrück!

Wenn die Bürgerinnen und Bürger der Hasestadt aber regelmäßig miterleben würden, dass um die Zukunft von Osnabrück gerungen, gerne auch gestritten wird…
Dass Gelder in Osnabrück nicht leichtfertig ausgegeben werden, sondern jeder Euro buchstäblich zweimal umgedreht wird, bevor er zur Auszahlung kommt – auch wenn es sich um Fördergelder aus Berlin oder Hannover handelt. Auch das ist Steuergeld, das eine sinnvolle Verwendung verdient hat…
Wenn sich die Verantwortlichen nicht nur einmal im Monat zur Ratssitzung treffen, sondern einfach mal solange in Klausur begeben würden, bis zum Beispiel für den Neumarkt nicht nur ein Frieden, sondern auch eine wirkliche und vor allem schnelle Lösung gefunden worden ist…
Ja, dann, und wirklich nur dann, hätte unser Stadtrat eine scharfe Waffe gegen Extremisten von links und von rechts im Einsatz. Doch das sehe ich alles nicht. Ich sehe Stillstand in der Politik, Verfall in der Stadt und wirklich absurde Ausgaben für Probleme, die keiner hat oder für die es keine Nachfrage nach einer Lösung zu geben scheint – aber alles in schöner Harmonie beschlossen, bloss kein Streiten um die beste Lösung – und das Geld anderer Leute, das munter verprasst werden kann, scheint es ja in Überfluss zu geben (noch).

 


Hinweis zur zeitlichen Einordnung: Der obige Kommentar wurde vor der Blockade der Fähre, die Vizekanzler Habeck von seiner Ferieninsel in der Ostsee aufs Festland bringen sollte, geschrieben. Ich distanziere mich selbstverständlich von jeder Form von Gewaltausübung, auch von Aktionen, die als Nötigung strafrechtlich verfolgt werden können. HP


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„Denken ist schwer, darum urteilen die meisten.“ (C. G. Jung)
Bitte denken Sie mehr. Ihr Heiko Pohlmann


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Heiko Pohlmann
Heiko Pohlmann
Heiko Pohlmann gründete die HASEPOST 2014, basierend auf dem unter dem Titel "I-love-OS" seit 2011 erschienenen Tumbler-Blog. Die Ursprungsidee reicht auf das bereits 1996 gestartete Projekt "Loewenpudel.de" zurück. Direkte Durchwahl per Telefon: 0541/385984-11

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