Der Einzelhandel in der EU wächst. Nach Zahlen der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) allein im Jahr 2021 um 6,8%. Mit der zunehmenden Popularität steigen auch die Erwartungen an Händler in Deutschland und den Niederlanden. Doch welche Besonderheiten zeichnen den Markt in beiden Ländern aus? Und welche Trends haben für professionelle Retailer über die Landesgrenze hinaus Bedeutung?
Vertrauen, Effizienz, Heimatnähe: Schnittmengen zwischen Deutschland und den Niederlanden
Gerne werden die Niederländer als ein Volk von Digital Natives betitelt. Denn mehr als 90% der 17 Millionen Einwohner unseres Nachbarlandes sind laut dem Datenportal Stata an das Internet angebunden.
Sie geben im Durchschnitt fast 2000€ jährlich für Online-Einkäufe aus. Besonders beliebt sind dabei heimische Online-Plattformen. Wie Eurotext zusammenfasst befindet sich unter den Top-Fünf der beliebtesten Marktplätze mit Zalando nur ein ausländischer Vertreter. Was für den Endkonsumenten gilt, scheint sich auch bei der Einkaufspolitik vieler holländischer Händler fortzusetzen. „Wir beobachten, dass niederländische wie deutsche Händler gerne heimische Marken einkaufen, während internationale Brands nur etwa 30% – 50% der Nachfrage ausmachen“, gibt Joost Brugmans Einblick in die Bestellstatistiken einer von ihm mitentwickelten Produktplattform. Denn der Gründer und CEO ist mit Orderchamp, einem Online-Marktplatz für Händler, auf beiden Märkten sehr aktiv. Deutschland und die Niederlande gehören neben Belgien und Österreich zu Orderchamp’s Kernmärkte. Transparente Produktbeschreibungen, ein Beschaffungswesen, das Bestellungen von unterschiedlichen Zulieferern bündelt und Verlässlichkeit bei der Belieferung seien für Händler in beiden Ländern das A&O. „Viele Händler sind auf gute Kundenbewertungen angewiesen. Dafür brauchen sie zuverlässige Lieferanten“, so der Unternehmer. Auch deshalb lasse Orderchamp Zulieferer im Voraus auf ihre Verlässlichkeit hin überprüfen.
Digitalisierung und Markenvielfalt: Wo sich deutsche und niederländische Retailer unterscheiden
In einer aktuellen Studie beziffert die Unternehmensberatung McKinsey den Investitionsbedarf für die Digitalisierung im europäischen Handel auf bis zu 230 Milliarden Euro. Ein Großteil davon dürfte vor allem in Deutschland von Nöten sein. „Gerade in Deutschland werden Geschäfte zum Teil noch per Fax und überwiegend über E-Mail oder Offline-Kanäle abgewickelt. Um gegenüber großen Playern wie Amazon zu bestehen, reicht das nicht mehr“, bemängelt Brugmans das Digitalisierungsdefizit im deutschen Handel. In Sachen Digitalisierung hätten niederländische Retailer häufig die Nase vorn, obgleich es auch dort Potenzial für mehr Effizienz gebe. Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen sind für den diplomierten Innovationsmanager keine leeren Schlagworte mehr, sondern Kernbausteine für einen kundenfokussierten Handel. Das Ziel: Persönlichkeit und Vorlieben des Kunden verstehen, um ein individuelles Einkaufserlebnis zu gestalten. Einige Händler setzen dabei vor allem bei holländischen Kunden bewusst auf die Gefühlskarte. „Wir arbeiten mehr mit Videos und betonen stärker Emotionen“, beschreibt etwa Jop Küster, Marketing-Mitarbeiter beim Reinigungsgerätehersteller Kärcher, die Herangehensweise seines Unternehmens in Holland. Von den in Fachkreisen als Advanced Analytics bezeichneten Methoden erhoffen sich viele Retailer neue Wachstumschancen.
Geht es nach Brugmans, dürfte das vor allem unter deutschen Kaufleute gelten: „Gegenüber ihren niederländischen Konkurrenten probieren Händler aus Deutschland gerne vermehrt unterschiedliche Marken aus. Sie bieten in der Regel eine größere Bandbreite an Markenartikeln und setzen noch stärker auf Produktvielfalt.“ Gerade sie könnten von einer gezielteren Kundenansprache für den Absatz ihres Sortiments profitieren.
Warum sich eine länderspezifische Produktpalette lohnen kann
Dass es sich lohnt, das Angebot in beiden Ländern unterschiedlich auszurichten, bestätigt auch Marketingmanager Jan Willem Beumer. „Niederländer und Deutsche weisen in der Regel nicht das gleiche Such- und Kaufverhalten auf“, fasst er seine Marketingerfahrungen aus der Arbeit für den Schuhproduzenten ELTEN zusammen. Ein ähnliches Bild zeichnen auch interne Absatzstatistiken von Orderchamp. Während in beiden Ländern Produkte aus dem Bereich Wohnen am beliebtesten sind, ergeben sich danach durchaus unterschiedliche Präferenzen. Artikel rund ums Kind sowie Schreibwaren stehen danach bei vielen Niederländern hoch im Kurs. Deutsche Händler decken sich dagegen vermehrt mit Küchenutensilien sowie Schmuckartikeln für ihre Kunden ein.
„Die dreifache Transformation“ und was sie für die Zukunft des Handels bedeutet
Daniel Läubli, Senior Partner bei McKinsey, sieht den Groß- und Einzelhandel in Europa vor nichts weniger als einen „dreifachen Transformation“. Denn neben dem digitalen Fortschritt, hält auch der Klimaschutz zunehmend Einzug in die Branche. Um das von der EU gesteckte Ziel zu erreichen, bis 2050 klimaneutral zu werden, dürfte auch die Erwartungshaltung der Verbraucher an nachhaltige Produktion und Vertrieb größer werden. Anzeichen eines Nachhaltigkeitstrends erkennt auch Brugmans auf Orderchamp. „Wir haben vor kurzem die Nutzung unserer ökologischen Filter durch unsere Kunden analysiert. Gerade deutsche Händler filtern sehr gerne nach Nachhaltigkeitskriterien wie ‚handgemacht oder bio‘“, fasst er die Ergebnisse zusammen. Er erwartet bereits für das laufende Jahr, dass immer mehr Händler bei Verpackung, Herstellung und Lieferung versuchen werden, ihren ökologischen Fußabdruck zu verkleinern. Denn auch unter deutschen Verbrauchern spielen ökologisch-soziale Kriterien offenbar eine zunehmend größere Rolle. Bereits im Jahr 2022 gaben in einer Deloitte-Umfrage unter 1500 Konsumenten fast zwei Drittel an, dass trotz der aktuellen Krisensituation Nachhaltigkeit ziemlich oder sehr wichtig bei ihrer Kaufentscheidung ist.
Die Herausforderungen für den Handel scheinen in den letzten Jahren nicht kleiner geworden zu sein. Um sie zu bewältigen, verweisen Handelsexperten wie von McKinsey auf die Notwendigkeit von ausreichend qualifizierten Fachkräften. EU-weit seien zwar bereits etwa 26 Millionen Menschen im Handel beschäftigt, doch herrsche eine große Fluktuation. Nach Daten der Statistikbehörde Eurostat ist der Mangel an Fachkräften mit 4,9% unbesetzten Stellen in den Niederlanden noch gravierender als hierzulande. Damit liegt das Land auf Platz 2 des Negativ-Rankings. Mit 4,1% offener Fachkräftestellen findet sich jedoch auch die Bundesrepublik noch unter den fünf EU-Ländern mit dem größten Bedarf an Fachkräften. Wenig überraschend taxiert man bei McKinsey die Höhe notwendiger Investition in Recruiting und Ausbildung auf EU-weit bis 35 Milliarden Euro.
Innovationen jenseits des traditionellen Handels
Entschlossenes Handeln fordert deshalb Bartosz Jesse, Co-Autor der McKinsey-Studie. Nur so könne der Groß- und Einzelhandel seine Widerstandsfähigkeit erhöhen und neue Geschäftsmöglichkeiten jenseits des traditionellen Handels erschließen. Bei Orderchamp und Brugmans dürfte dieser Appell auf viel Resonanz stoßen. Mit mehr Verkaufskanälen, einer großen Produktpalette und zentral steuerbaren Bestellprozessen wollen er und sein Team der Branche die Transformation erleichtern. „Nach Anregung durch unsere deutschen Kunden starten wir gerade eine neue Art des Shoppings namens ‚Visuelles Kaufen‘. Damit wird es deutlich leichter, sich bei der Auswahl unter unseren 500.000 Artikeln zurecht zu finden“, beschreibt er die Vorteile der jüngsten Innovation von Orderchamp. Angesichts des großen Anpassungsbedarfs im europäischen Handel dürfte sie nicht die Letzte gewesen sein.