Systematisches Dilemma? Menschen mit Behinderung arbeiten in Werkstätten weit unter dem Mindestlohn

Während der Mindestlohn für alle im Oktober 2022 auf zwölf Euro die Stunde angehoben wurde, wird in Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfMB) für einen Bruchteil dieses Geldes gearbeitet – auch in Osnabrück. Mirjam B. liebt ihren Job und arbeitet gerne im Stadtgalerie Café und Contor, aber wird sie auch entsprechend für ihren Einsatz entlohnt?

Mirjam B. ist 29 Jahre alt und arbeitet seit 13 Jahren im Stadtgalerie Café und Contor. Bis vor kurzem unterstützte sie noch das Team des Cafés und war die erste, die das Backen und Flechten des Französischen Hefezopfs meisterte. Seit der Einrichtung des VfL Fanshops im Contor hat sie ihren Arbeitsplatz gewechselt. Jetzt arbeitet sie im Verkauf, aber gestaltet auch Geschenkartikel. Stolz zeigt sie den Glasengel, den sie gerade fertigt und erklärt, was noch alles gemacht werden muss.

Mirjam fährt aus der Wüste mit dem Fahrrad zur Arbeit. Ihr Vater Thomas fühlt sich dabei noch nicht ganz so wohl. „Fahrräder sind leichter als Autos und für mich wird sie immer das kleine Mädchen bleiben“, sagt er. Mirjam hat eine Behinderung und arbeitet für die Osnabrücker Werkstätten, die von der Heilpädagogischen Hilfe Osnabrück (HHO) betrieben werden, und zu den Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfMB) zählen. Auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt sei Mirjam nicht zu vermitteln, erklärt ihr Vater Thomas. Viele Unternehmen würden sie nicht aufnehmen, für Mirjam selbst wäre der Leistungsdruck zu groß. Deswegen will sie auch nicht auf den „richtigen“ Arbeitsmarkt.

Rückhalt in Werkstätten

„Mir macht die Arbeit hier sehr viel Spaß und ich will gar nicht weg“, erzählt die 29-Jährige, die vor der Arbeit in der Stadtgalerie schon einige andere Jobs ausprobiert hat. Etwa sechseinhalb Stunden arbeitet sie am Tag, in ihrer Cafézeit sogar noch im Schichtbetrieb und teilweise sonntags. Wenn es ihr währenddessen nicht gut geht, haben ihre Kolleginnen und Kollegen ein offenes Ohr und sie darf sich ausruhen, wenn sie das will und braucht. „Und falls es den anderen nicht gut geht, muntere ich sie auf und erzähle einen Witz“, sagt sie. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind ein eingeschweißtes Team. Vielen von ihnen würde es nicht um das Geld gehen, das sie in der Werkstatt verdienen. Sie wollen aus der Wohnung kommen, ihre Freunde sehen, eine Routine haben und etwas Schönes machen. Über ihr Gehalt, beziehungsweise das ausgezahlte „Werkstättenentgelt“, will Mirjam deswegen nicht reden.

Vollzeitarbeit für 220 Euro im Monat?

Dass die Arbeit von Menschen mit geistiger oder physischer Behinderung in Werkstätten nicht an den Mindestlohn gebunden ist, ist schon lange Thema in der öffentlichen Debatte. Beschäftigte stehen laut §221 des neunten Sozialgesetzbuches (SGB IX) in einem „arbeitnehmerähnlichen Verhältnis“ zur Werkstätte und werden entsprechend anders entlohnt. Der Gesetzgeber sieht seit Januar 2023 ein Mindestentgelt von 126 Euro pro Monat vor. Dazu kommen in der Regel noch „Arbeitsförderungsgeld“ in Höhe von derzeit 52 Euro und der „Steigerungsbetrag“. Die Höhe des Letzteren hängt davon ab, bei welcher Werkstatt sie beschäftigt sind und wie viel Umsatz die Werkstatt erwirtschaftet. „Nicht mal die Werkstätten in Niedersachsen haben ein einheitliches System entwickeln können“, berichtet Cornelia Kammann. „Wir unterliegen am Ende immer noch dem Entgeltsystem des Bundes. Momentan schütten wir definitiv mehr aus, als mindestens vorgegeben ist“, beteuert die Prokuristin der HHO. Eine genaue Zahl will sie allerdings nicht nennen. Aktuelle Angaben zum Werkstättenentgelt im Jahr 2023 liegen noch nicht vor. Im Jahr 2021 lag das durchschnittlich ausgezahlte Entgelt laut dem Bundesministerium für Soziales und Arbeit bei 220 Euro im Monat.

Werkstättenentgelt sei laut Kammann nicht gleichbedeutend mit dem Lebensunterhalt von Menschen mit Behinderung. Hinzu kämen noch die Grundsicherung, verschiedene Sozialhilfen und die Erwerbsminderungsrente, die nach 20 Jahren Beschäftigung in einer WfMB ausgezahlt wird. „Würden wir den Lohn der Beschäftigten in Werkstätten einfach erhöhen, würden diese wichtigen Bestandteile wegbrechen und die Menschen hätten noch weniger Geld als vorher“, sagt Kammann. Mirjams Vater Thomas empfindet die Erwerbsminderungsrente nach 20 Beschäftigungsjahren ebenfalls als große Erleichterung: „Für uns Angehörige bedeutet diese Leistung unglaublich viel Sicherheit, gerade in finanzieller Hinsicht.“ Den Aufruf, Werkstätten für Menschen mit Behinderung abzuschaffen, findet er deshalb ungerechtfertigt. „Es gibt genügend Menschen, die in einer Werkstatt arbeiten wollen und denen es nicht um den Lohn, sondern um die Beschäftigung geht. Jeder sollte selbst entscheiden dürfen, wo er arbeitet und wie er arbeiten will“, resümiert Thomas.

Die Arbeit ist der Lohn?

Dass es allerdings mindestens genauso vielen Menschen eben nicht nur um die Beschäftigung, sondern auch um den Lohn geht, zeigt unter anderem eine Petition von Lukas Krämer auf change.org. Krämer hat selbst eine Behinderung und war jahrelang in einer Werkstatt beschäftigt. Heute arbeitet er auf dem „ersten Arbeitsmarkt“, im Wahlkreisbüro einer Grünen-Bundestagsabgeordneten. Er fordert den Mindestlohn für Menschen, die in WfMB arbeiten. Denn die Aussage, dass es mit der Einführung des Mindestlohns in Werkstätten zu einer Verminderung des gesamten Lebensunterhaltes kommen würde, kann gleichsam umgekehrt formuliert werden. „Es ist für niemanden möglich, davon [dem Werkstättenentgelt] zu leben, weswegen wir dann auch Grundsicherung vom Staat brauchen“, schreibt Krämer zu seiner Petition, die mittlerweile über 200.000 Menschen unterschrieben haben. Sie fordern eine gerechte Entlohnung von Menschen, die in Werkstätten arbeiten, und vor allem dass Werkstätten ihren gesetzlich geregelten Aufträgen nachgehen.

Die Wirtschaftlichkeit von Werkstätten

Zentrale Aufgaben von Werkstätten sind unter anderem berufliche Bildung, Entwicklung der Erwerbsfähigkeit und Vermittlung in den allgemeinen Arbeitsmarkt. Bundesweit liegt die Vermittlungsquote in den „ersten Arbeitsmarkt“ jedoch bei unter einem Prozent. Die Europaabgeordnete Katrin Langensiepen vermutet in einem Interview, dass Werkstätten ihre guten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht verlieren wollen – deswegen würden sie sie nicht vermitteln. Die Vermittlungsquote in Osnabrück sei nach Angaben von Kammann höher als der bundesweite Durchschnitt. Die „Kampagne 1A – Ein Arbeitsmarkt für alle“ der HHO bemüht sich darum, mehr Arbeitgeber von einem inklusiven Arbeitsumfeld zu überzeugen und Vorurteile abzubauen. Die zugrundeliegenden strukturellen Probleme sind dadurch jedoch nicht aus der Welt geschafft.

Kommentar der Redakteurin: Mit weniger Druck zum gleichen Ziel

Die Debatte um Werkstätten für Menschen mit Behinderung scheint in einem Dilemma zu enden. Schlussendlich sollte jede Arbeit gerecht entlohnt werden. Ein Paragraf im Sozialgesetzbuch, der Beschäftige in Werkstätten explizit als nicht gleichberechtigte Arbeitnehmer definiert, dient nicht der Inklusion, sondern dem Ausschluss. Er führt dazu, dass sich die soziale Ungerechtigkeit für Menschen mit Behinderungen verschärft. Der Fachausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen empfahl deswegen schon 2015, Werkstätten schrittweise abzuschaffen. Sie entlohnen die Arbeit nicht angemessen, die Vermittlungsquote ist verschwindend gering, der Arbeitsplatz in vielen Fällen nicht freiwillig gewählt – die Liste negativer Kritik ist lang.
Das System der Werkstätten ist eine Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beißt. Eine verquere Praxis, bei der nicht ganz deutlich wird, wer wirkliche Integration und Inklusion will und wer nicht – und vor allem: wer die Hürden dafür bestimmt. Letztendlich werden Gesetzgeber und Wirtschaftlichkeit Triebkräfte, die Inklusion nicht erleichtern, sondern maßgeblich erschweren.
Aber was ist mit der anderen Seite? Was ist mit Menschen wie Mirjam, der die Arbeit in der Werkstatt sehr gut gefällt? In ihren Augen sind Werkstätten per se nichts Schlechtes. Vielmehr sind sie ein Ort, an dem sie sein kann, wie sie ist und an dem sie nicht permanenten Leistungsdruck empfinden muss. An dem es nicht schlimm ist, wenn es ihr nicht gut geht und sie eine Pause braucht. Auf dem „normalen“ Arbeitsmarkt mit einem „normalen“ Stundenlohn ist das nicht möglich. Ein inklusiver Arbeitsmarkt würde nicht nur endlich Integration und Begegnung auf Augenhöhe bedeuten – er könnte sogar alle Beschäftigten entlasten. Jeder sollte so arbeiten dürfen, wie er kann. Warum braucht es dafür Werkstätten, wenn wir auch alle gemeinsam etwas mehr Rücksicht aufeinander nehmen könnten?


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Tatjana Rykov
Tatjana Rykov
Tatjana Rykov startete im Sommer 2019 mit einem Praktikum bei der HASEPOST. Seitdem arbeitete sie als freie Mitarbeiterin für unsere Redaktion. Nach ihrem Bachelor in Geschichte und Soziologie an der Universität Osnabrück ist sie seit 2023 wieder fest im Redaktionsteam. Derzeit schließt sie ihren Fachmaster in Neuste Geschichte an der Uni Osnabrück ab. Privat trifft man sie oft joggend im Park oder an ihrer Staffelei.

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