Scham ist ein Gefühl, das sich oft im Verborgenen zeigt. Es ist still, subtil und doch enorm kraftvoll. In der Psychotherapie taucht Scham immer wieder auf, meist nicht direkt, sondern als Widerstand, als Ausweichbewegung oder als Sprachlosigkeit. Viele Menschen, die sich in Therapie begeben, bringen eine Geschichte mit, in der Scham eine zentrale Rolle spielt – sei es durch traumatische Erlebnisse, soziale Zurückweisung oder internalisierte Erwartungen. Die Herausforderung: Scham ist schwer greifbar. Sie ist nicht so laut wie Angst oder so sichtbar wie Trauer. Und gerade deshalb kann sie zu einem der stärksten Widerstände in therapeutischen Prozessen werden.
Online Psychotherapie hat in den letzten Jahren dazu beigetragen, Scham auf neue Weise zu begegnen. Die Möglichkeit, sich aus dem geschützten Raum der eigenen vier Wände zu öffnen, bietet vielen Menschen einen niedrigschwelligen Zugang zur therapeutischen Arbeit. Doch auch hier bleibt die Scham präsent. Sie zeigt sich in zögerlichen Formulierungen, im Auslassen bestimmter Themen oder in der Angst vor Bewertung. Scham wirkt oft im Hintergrund, doch ihre Wirkung ist nicht zu unterschätzen.
Was ist Scham überhaupt?
Scham ist ein soziales Gefühl. Es entsteht, wenn Menschen das Gefühl haben, nicht den Erwartungen anderer oder den eigenen Idealen zu genügen. Dieses Empfinden kann sowohl in konkreten Situationen als auch in abstrakten Vorstellungen auftauchen. Während Schuld oft mit einem konkreten Verhalten verbunden ist („Ich habe etwas falsch gemacht“), fühlt sich Scham viel grundsätzlicher an: „Ich bin falsch.“
Dieses Selbstbild kann tief in der eigenen Biografie verwurzelt sein. Menschen, die früh beschämende Erfahrungen gemacht haben – zum Beispiel durch Kritik, Vernachlässigung oder Überforderung – entwickeln oft eine starke innere Scham, die sich im Laufe des Lebens verfestigt. Diese Form von Scham ist meist nicht bewusst abrufbar, sondern wirkt unter der Oberfläche. In der Psychotherapie ist es daher eine besondere Herausforderung, sie sichtbar zu machen.
Ein zentrales Merkmal von Scham ist ihre Doppelnatur: Sie will einerseits verdeckt bleiben, gleichzeitig wünscht sich der Mensch Anerkennung und gesehen werden. Dieser innere Konflikt kann dazu führen, dass Menschen sich in Therapiesitzungen zurückziehen, Themen meiden oder sich selbst abwerten. Gerade in der Online Psychotherapie zeigt sich dieser Mechanismus besonders klar, da nonverbale Signale schwerer wahrnehmbar sind und der Kontakt distanzierter wirkt.
Wie Scham in der Psychotherapie wirkt
In der therapeutischen Praxis zeigt sich Scham oft als unsichtbarer Widerstand. Dabei geht es nicht um absichtliche Verweigerung, sondern um einen unbewussten Schutzmechanismus. Scham bewahrt vor Verletzung, vor Ablehnung, vor dem Gefühl, entblößt zu sein. Doch dieser Schutz kann gleichzeitig den therapeutischen Prozess blockieren.
Typische Anzeichen für Scham in der Psychotherapie sind:
- Ausweichen bestimmter Themen
- Vermeidung von Augenkontakt (in Videositzungen: Kamera abschalten oder in eine andere Richtung schauen)
- Selbstabwertung in der Sprache (z. B. „Ich bin halt einfach so“ oder „Das ist bestimmt dumm“)
- Starkes Bedürfnis, alles richtig machen zu wollen
- Emotionale Erstarrung oder das plötzliche Verstummen
Die Herausforderung für Therapeut:innen besteht darin, diese Signale wahrzunehmen, ohne sie zu bewerten. Denn Scham braucht Sicherheit, um sich zeigen zu können. Erst wenn ein Mensch sich emotional sicher fühlt, kann er sich seiner Scham nähern. Die Beziehung zur Therapeutin oder zum Therapeuten spielt dabei eine zentrale Rolle. Sie sollte getragen sein von Empathie, Geduld und einer Haltung, die nicht bewertet, sondern annimmt.
Auch die Form der Therapie kann eine Rolle spielen. Online Psychotherapie etwa bietet den Vorteil, dass sich Menschen im vertrauten Umfeld öffnen können. Gleichzeitig können wichtige nonverbale Hinweise verloren gehen, was einen sensiblen Umgang noch wichtiger macht.
Wege aus der Scham: Was therapeutisch hilft
Scham kann sich lösen, wenn sie gesehen und benannt werden darf. Das klingt einfach, ist es aber nicht. Denn gerade das Sichtbarwerden ist das, was Scham vermeiden will. Es braucht daher einen sensiblen, schrittweisen Umgang. In der Praxis haben sich verschiedene Herangehensweisen bewährt, um mit Scham zu arbeiten.
Eine wichtige Grundlage ist die Psychoedukation: Wenn Menschen verstehen, was Scham ist und wie sie wirkt, können sie sich besser davon distanzieren. Aus dem Gedanken „Ich bin falsch“ wird dann vielleicht „Ich empfinde gerade Scham, weil…“ – eine kleine, aber bedeutende Verschiebung.
Hier einige therapeutische Methoden, die beim Umgang mit Scham hilfreich sein können:
- Narrative Methoden: Die eigene Geschichte erzählen, um neue Perspektiven zu entwickeln
- Teilearbeit (z. B. innere Kind-Arbeit): Zugang zu jenen inneren Anteilen, die sich besonders beschämt fühlen
- Körperorientierte Verfahren: Scham zeigt sich oft auch körperlich, z. B. in Verkrampfung, Blicksenkung oder Hitzegefühlen
- Ressourcenarbeit: Den Fokus bewusst auf Stärken und Selbstwirksamkeit lenken
- Achtsamkeit: Einen nicht-bewertenden Umgang mit eigenen Empfindungen einüben
Diese Methoden werden nicht isoliert angewendet, sondern in den individuellen therapeutischen Prozess eingebettet. Wichtig ist dabei die Haltung der Therapeutin oder des Therapeuten: wertschätzend, präsent und ohne Eile. Denn Scham braucht Zeit.
Scham im Vergleich zu anderen Emotionen
Um Scham besser einordnen zu können, lohnt sich ein Blick auf die Unterschiede zu anderen Gefühlen. Die folgende Tabelle zeigt zentrale Unterscheidungsmerkmale:
| Emotion | Fokus des Gefühls | Typische Gedanken | Körperliche Reaktionen |
| Scham | Auf die eigene Person | „Ich bin falsch“ | Blicksenkung, Rötung |
| Schuld | Auf ein bestimmtes Verhalten | „Ich habe etwas falsch gemacht“ | Unruhe, Wunsch nach Wiedergutmachung |
| Angst | Auf eine Bedrohung | „Etwas Schlimmes könnte passieren“ | Herzklopfen, Anspannung |
| Trauer | Auf Verlust oder Trennung | „Etwas Wichtiges fehlt mir“ | Weinen, Zurückgezogenheit |
Diese Einordnung hilft nicht nur in der Therapie, sondern auch im Alltag, um eigene Gefühle besser zu benennen und einzuordnen. Scham bleibt dabei ein besonders herausforderndes Gefühl, gerade weil sie so eng mit dem Selbstbild verknüpft ist.
Online Psychotherapie kann Menschen dabei unterstützen, diesen Prozess in ihrem eigenen Tempo zu gehen. Die Distanz des digitalen Raumes kann dabei ebenso entlastend wie herausfordernd sein. Entscheidend ist, dass ein geschützter Raum entsteht, in dem auch Scham einen Platz haben darf.

