Guten Abend,

ich habe in dieser Woche für eine gute Bekannte eine wissenschaftliche Abschlußarbeit nach Rechtschreibfehlern und inhaltlichen Unstimmigkeiten durchgesehen. Die Dame stammt aus dem Kosovo und Deutsch ist nicht ihre Muttersprache. Ihre Abschlußarbeit hat sie im Fachbereich „Sozialwissenschaften“ geschrieben, was für mich als passionierten Rechtsgelehrten natürlich eher ein grausliches Metier darstellt, weil es gar so schwer zu fassen ist. Unser ganzes Leben ist doch im Grunde nichts anderes als eine einzige Sozialwissenschaft, die uns oft genug auf einen Holzweg führt und leider nur in seltenen Fällen zum Pfad der Erkenntnis, Erleuchtung und ewigen Weisheit gereicht. Viele Menschen, oft widmen sie sich in ihrer Freizeit dem Betätigungsfeld der Kommunalpolitik, glauben zwar, daß sie von Natur aus mit ewiger Weisheit gesegnet und mit reichlich Erkenntnis und Erleuchtung ausgestattet sind. Leider schützt sie dieser Irrglaube nicht davor, einen Holzweg nach dem anderen zu beschreiten. Die Sozialwissenschaft als universitäre Disziplin kann nichts dafür, ich will sie deshalb auch nicht ungerechtfertigterweise in ein schlechtes Licht stellen. Ich habe einfach nur die Erfahrung gemacht, daß die beste Sozialwissenschaft das Leben selbst ist, mit all seinen Facetten, Licht- und Schattenseiten, Farben, Grautönen, Hochs und Tiefs und dem, was zu einem erfüllten Dasein eben so dazugehört.

Meine gute Bekannte hatte ihre Abschlußarbeit dem Thema „Migration“ gewidmet, speziell den Migrationserfahrungen von Frauen. Da ich dem weiblichen Geschlecht durchaus zugetan bin (vor allem wieder, seitdem meine liebe Frau gestorben ist), habe ich ihre Ausführungen mit Interesse gelesen. Und ich muß sagen, ich war anschließend durchaus beeindruckt. Denn mir ist bewußt geworden, wie vielschichtig das Thema Migration doch immer wieder ist und wie verengt unsere eigene kleine Wahrnehmung auf eine gesellschaftspolitische Entwicklung, die uns letzten Endes alle betrifft, und zwar in viel größerem Ausmaß als wir ahnen oder es uns eingestehen wollen. Ich habe von Aleksandra aus Estland erfahren, die in Tartu studiert hat und seit 2002 in Deutschland lebt, von Katharina aus der Ukraine, die erst mit 65 Jahren ihr Heimatland verlassen hat, um näher bei ihrer Tochter und ihren Enkelkindern zu sein und die irgendwann mal mit dem roten Diplom für ihr Wirtschaftsstudium ausgezeichnet wurde, eine Ehre, die in der früheren Sowjetunion nur den Besten eines Jahrgangs zuteil wurde. Ich habe von Felicitas aus Sizilien gelesen, einer gelernten Erzieherin, die zehn Jahre in Venedig gearbeitet hat. Sie hat Italien mit ihrem Mann und den beiden Töchtern 2012 verlassen, weil er nach langer Suche endlich in Deutschland eine Arbeitsstelle fand. Oder von Ayse aus Istanbul, die 2001 zu uns kam, um als Au-pair-Mädchen zu arbeiten, die hier geheiratet hat, sich scheiden ließ, wieder in die Türkei zurückging, einen neuen Partner fand und dann 2012 erneut nach Deutschland kam, weil sie für ihre Kinder ein sicheres Zuhause wollte. Und dann habe ich noch jede Menge von Datenerhebungen und Datenanalysen gelesen, von Gesellschaftstheorien und Forschungsergebnissen, aber das war mir dann irgendwie gar nicht mehr so wichtig. Ich war fasziniert von den Geschichten, die hinter all den Namen und Orten stecken, wo Menschen leben, leiden, lieben. Wo sie zur Welt kommen, wo sie etwas lernen, wo sie in andere Länder aufbrechen, selber Kinder auf die Welt bringen, arbeiten, etwas Neues schaffen, den Alltag bewältigen, sich um ihre Familien kümmern und all das, was sich hinter dem schnöden Begriff „Sozialwissenschaften“ verbirgt, immer wieder und mit ganz viel Herz und Verstand mit Inhalt füllen. Und ich habe zum ersten Mal gespürt, wovon die Rede ist, wenn Migranten als Bereicherung für unsere Gesellschaft bezeichnet werden.

Ich habe mir da bisher nie viele Gedanken drüber gemacht, für mich als alteingesessenen Osnabrücker war ein gerüttelt Maß an Willkommenskultur immer selbstverständlich; ich glaube aber auch, daß man es mit Selbstverständlichkeiten nicht übertreiben muss. Ich bin nunmal ein typischer Bürger der „Stadt der goldenen Mitte“ (wie sich Osnabrück in den 70er Jahren selber bezeichnet hat, als ob dieser Titel eine Auszeichnung wäre). Aber bei Durchsicht der Abschlußarbeit meiner guten Bekannten habe ich die Gesichter hinter den Namen gesehen, die Schicksale und Lebenswege der Menschen, denen wir jeden Tag in den Straßen Osnabrücks begegnen und die uns auf den ersten Blick oft so fremd erscheinen. Sie sind wie wir, das machen wir uns wahrscheinlich viel zu selten klar. Ich werde nach wie vor nicht bei jedem Neuankömmling „Hurra“ schreien und mich vor Freude überschlagen. Auch zieht es mich nicht „Welcome“-rufend an irgendwelche Bahnhöfe. Aber ich bin neugierig geworden, ich möchte mehr wissen von den Menschen, die in meine Heimatstadt kommen und hier mit mir leben wollen. Und sei es nur, um mit ihnen gemeinsam von Venedig, Tartu oder Istanbul zu träumen. Denn trotz meines hohen Alters habe ich eigentlich viel zu wenig von der Welt gesehen. Das wird mir bei so bescheidenem Sommerwetter, wie wir es in den letzten Wochen hier ertragen mußten, immer wieder aufs Neue bewußt. Und die Welt ist klein, das merke ich ebenfalls recht deutlich. Manchmal liegen Kiew und Palermo viel näher als Kattenvenne und Burgsteinfurt. Was ja nicht unbedingt etwas Schlechtes sein muß. Bei dieser Gelegenheit wünsche ich meiner guten Bekannten, daß sie für ihre tolle Abschlußarbeit auch eine tolle Zensur bekommt. Mir hat sie sehr gefallen!

Und allen HASEPOST-Lesern wünsche ich selbstverständlich ein Wochenende, an dem es nichts zu kritisieren gibt. Die Hoffnung stirbt zuletzt!

Die Hoffnung stirbt zuletzt!

Ihr

Justus Möser

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