Kolumne

Guten Abend,

kennen Sie den amerikanischen Politiker Hiram Warren Johnson? Der war vor hundert Jahren Gouverneur von Kalifornien und seinerzeit ein führender Vertreter der sogenannten progressiven Bewegung in den USA. Heute würde man ihn wohl einen Populisten nennen, denn er orientierte seine politischen Handlungen durchaus an dem vermuteten Willen des Volkes. In seine Amtszeit fielen Reformen des Wahlgesetzes wie zum Beispiel die Direktwahl von Senatoren und die Unterstützung von weiblichen Wahlkämpfern. 1917 wechselte er in den amerikanischen Kongress und verfolgte dort in der Außenpolitik einen eher isolationistischen Kurs. 1919 stimmte er gemeinsam mit den meisten anderen Republikanern gegen die Ratifizierung des von Präsident Woodrow Wilson geplanten Eintritts der USA in den Völkerbund, den Vorläufer der Vereinten Nationen. In diesem Zusammenhang wird ihm der Ausspruch „Das erste Opfer eines jeden Krieges ist immer die Wahrheit!“ zugeschrieben. Seine Urheberschaft ist allerdings nicht unumstritten, denn schon der altgriechische Dichter Aischylos stellte fest: „Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer!“ Wie auch immer, die Wahrheit ist ein weites Feld und ein höchst zerbrechliches Gut, in dessen Vollbesitz zu sein gerne von allen möglichen Interessensgruppen für sich reklamiert wird. 

Mittlerweile spricht man ja auch mal gerne von Fake News, wenn man der Auffassung ist, daß eine Darstellung der Wirklichkeit nicht der Wahrheit entspricht. Zu meiner Zeit nannte man soetwas schlicht eine Lüge. Der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil hat nun den ehemaligen VW-Vorstandsvorsitzenden Ferdinand Piëch der Verbreitung von Fake News bezichtigt. Piech hatte behauptet, daß Weil und weitere Mitglieder des VW- Aufsichtsrates schon im Frühjahr 2015, also lange vor Bekanntwerden der Abgasaffäre rund um die gefälschten Schadstoffwerte bei Dieselfahrzeugen, Kenntnis von diesen Dingen hatten. Stephan Weil begründete jetzt den Vorwurf der Fake News unter anderem damit, daß Piëch seine Behauptungen nicht beweisen könne. Dazu muß ich bemerken, daß etwas nicht unbedingt falsch sein muß, nur weil es sich nicht beweisen läßt. Auf jeden Fall haben die Äußerungen von Ferdinand Piëch für einige Unruhe bei Volkswagen gesorgt. Aus Unternehmenskreisen hieß es am vergangenen Mittwochabend: „Piëch hat sich jetzt die Trump-Maske aufgesetzt und hantiert mit alternativen Fakten.“ Ich finde eine solche Äußerung völlig überzogen. Vielleicht hätte man sich einfach darauf beschränken können, klarzustellen, daß Piëchs Darstellung nicht der Wahrheit entspricht. Aber warum setzt man ihn in eine Verbindung mit dem amerikanischen Präsidenten? Ist es in Deutschland nicht mehr möglich, sachliche Auseinandersetzungen zu führen, ohne den Gegner persönlich zu diffamieren und mit einer Polemik zu agieren, die der Sache überhaupt nicht angemessen ist? Zudem sollte VW nicht vergessen, daß der US-amerikanische Absatzmarkt für das Unternehmen von äußerster Wichtigkeit ist und daß es deshalb ratsam wäre, den amerikanischen Präsidenten nicht mehr als unbedingt nötig herabzusetzen und zu verunglimpfen. Wer im Glashaus sitzt, sollte zudem nicht mit Steinen werfen, wie der Volksmund so schön sagt. Volkswagen hat seit 2015 ausgiebig bewiesen, daß in diesem Unternehmen der Umgang mit alternativen Fakten zum Tagesgeschäft gehört. Dem wirtschaftlichen Erfolg wird dort offensichtlich alles andere untergeordnet.

Das erste Opfer eines jeden Krieges ist immer die Wahrheit. Diese Erkenntnis ist also wahrlich nicht neu, aber nun wird sie in zunehmendem Maße für die politische Auseinandersetzung instrumentalisiert. Wem Meinungsäußerungen oder Weltanschauungen von bestimmten Leuten, Parteien oder Gruppierungen nicht in das eigene Weltbild passen, der stempelt sie als Fake News ab und rückt die betreffenden Personen oder Institutionen damit in die Nähe von notorischen Lügnern und Spinnern. Dadurch wird erreicht, daß die freie Rede, das offene Wort, die persönliche Meinung, all das, was unser Zusammenleben ausmacht und eine freie Gesellschaft auszeichnet, jederzeit diskreditiert werden kann – durch den Generalverdacht der Unterstellung der Verwendung von alternativen Fakten, von angeblichen Fake News, von Lügen. Erdogan, Putin und jetzt auch Donald Trump nutzen diesen Trend zur Zementierung ihrer Macht. Im Grunde ist der Vorwurf der Verwendung von alternativen Fakten doch nichts anderes als ein Armutszeugnis. Zeigt er doch, daß derjenige, der sich dieses Instrumentes bedient, nicht in der Lage ist, durch eigene überzeugende Argumente Menschen für seine Sache zu gewinnen. Wenn jeder jeden jederzeit ungestraft der Lüge bezichtigen darf, welche Bedeutung hat dann überhaupt noch die Wahrheit? Oder geht es schlichtweg darum, erst gar keine sachliche Argumentation in der politischen Auseinandersetzung aufkommen zu lassen. Ist die Wahrheit das erste Opfer des großen Glaubenskrieges im 21. Jahrhundert, in dem es nur noch darum geht, Recht zu haben und den anderen zu verunglimpfen, mit Vorliebe unterhalb der Gürtellinie?

Und willst du nicht mein Bruder sein, dann schlag ich dir den Schädel ein – mit wohlgesetzten Worten funktioniert das oft besser als mit jeder konventionellen Waffe. Wir sollten uns dem Trend, alles und jeden, die uns nicht passen, als Verbreiter von alternativen Fakten schlechtzureden, entschieden entgegenstemmen. Ohne den offenen und angstfreien Diskurs geht unsere Gesellschaft allmählich vor die Hunde. Und wir werden das erst merken und am eigenen Leibe spüren, wenn es längst zu spät ist. Weil wir uns fürchten, rechtzeitig unsere Meinung zu sagen. Denn vielleicht paßt unsere Meinung nicht mehr in diese Zeit. Vielleicht stimmt etwas an ihr nicht, vielleicht beinhaltet sie alternative Fakten. Wer mag das schon genau zu sagen? Vielleicht stimmt etwas mit uns nicht. 

Ich wünsche allen HASEPOST-Lesern ein Wochenende, an dem es nichts zu mösern gibt. Die Hoffnung stirbt zuletzt!

Ihr

Justus Möser

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Illustration: dolgachov / 123RF Stock Photo