Eine ungewohnt heftige Debatte im Osnabrücker Stadtrat und als Novum in dieser Wahlperiode: eine geheime Abstimmung. Kitas sollen in Osnabrück bald beitragsfrei sein – gegen eindringliche Warnungen aus der Verwaltung und trotz millionenschwerer Kosten, für die die SPD eine Gegenfinanzierung zwar ankündigt, aber diese vor der Sommerpause nicht veröffentlichen will.
Kitas sollen in Osnabrück bald grundsätzlich und für Kinder aller Altersgruppen kostenfrei sein. Eine Entscheidung aus Sorge um die Familien oder um das Abschneiden bei der kommenden Kommunalwahl?
Also, ist das alles nur Wahlkampftaktik? Diese Frage stand nicht nur unausgesprochen im Raum, als sich der Osnabrücker Stadtrat kurz vor der Sommerpause zu einem seiner kontroversesten Beschlüsse der aktuellen Wahlperiode entschloss: Die Abschaffung der Elternbeiträge für Krippen und Horte zum 1. August 2026. Im Zentrum der Kritik: der Vorwurf Grüne und Volt, vor allem aber auch die SPD, würden mit populistischen Wahlgeschenken um Mandate für die nächste Kommunalwahl buhlen.
Direkte Worte von der CDU: „Sie verteilen Wahlgeschenke“
Besonders scharf formulierte es Eva-Maria Westermann, bildungspolitische Sprecherin der CDU-Fraktion: „Sie verteilen doch Wahlgeschenke zu 2026, weil Sie offensichtlich Angst vor Mandatsverlusten haben.“ Westermann kritisierte vor allem die Belastung für das städtische System: Es fehlten schon heute Fachkräfte, der Ausbaubedarf sei enorm, und der größte Engpass in der frühkindlichen Bildung sei nicht die Beitragshöhe, sondern die Qualität der Betreuung.
Erste geheime Abstimmung in dieser Wahlperiode
Angesichts der Schärfe der Debatte beantragte Marius Keite, CDU-Fraktionsvorsitzender, im weiteren Verlauf eine geheime Abstimmung über den Änderungsantrag seiner Fraktion, der statt einer Beitragsfreiheit lediglich ein Einfrieren der aktuellen Beitragssätze vorsah. Der Antrag fand zwar die nötige Unterstützung von FDP und AfD, wurde aber letztlich mehrheitlich abgelehnt. In der anschließenden offenen Abstimmung wurde der Antrag der Mehrheitsgruppe (SPD, Grüne, Volt) sowie der Gruppe Linke/Kalla Wefel angenommen.

Oberbürgermeisterin warnt eindringlich vor „Fehlsteuerung“
Den wohl eindrucksvollsten Appell der Sitzung richtete Oberbürgermeisterin Katharina Pötter an das Gremium. In einer zunehmend emotionalen Rede beschwor sie die drohende „Fehlsteuerung“, die eine Beitragsfreiheit mit sich bringen könnte. Sie lobte das bisherige System als „gut funktionierend“, das landesweit als vorbildlich gelte. „Wir haben in Osnabrück eine hundertprozentige Versorgung im Ganztagsbereich der Grundschulen, ausreichend Krippen- und Kitaplätze und ein funktionierendes Hortsystem. Warum riskieren Sie das alles?“
Pötter warnte, dass eine vollständige Beitragsfreiheit für Krippen und Horte neue Bedarfe generieren würde, für die es weder ausreichend Fachpersonal noch die notwendigen finanziellen Mittel gebe. Allein der Aufbau von 23 neuen Krippengruppen bei einem Nachfrageanstieg von nur 50 Prozent sei „schlichtweg nicht zu stemmen“. Auch für die Horte sehe sie fatale Konsequenzen: „Wenn Ferienbetreuung plötzlich kostenlos ist, wird sie massenhaft in Anspruch genommen – und wir müssen Personal vorhalten, das es nicht gibt.“
Gegenfinanzierung? SPD behauptet aber liefert nicht
Frank Henning (SPD) reagierte auf die Kritik mit dem Hinweis, dass man – wie bereits bei der Beitragsfreiheit für Kindergärten – auch bei den Krippen den letzten Schritt der Bildungskette gehen müsse. Die finanziellen Bedenken wies er zurück: „Wir werden Gegenfinanzierungsvorschläge in Höhe von neun Millionen Euro in die Haushaltsberatungen einbringen“, kündigte er an – ohne aber seine angebliche Gegenfinanzierung konkret vorzulegen. Er warf der CDU vor, die Debatte aus parteipolitischen Gründen zu blockieren, anstatt echte Lösungen zu präsentieren.
Susanne Hambürger dos Reis, Fraktionsvorsitzende der SPD, sprach von einem „historischen Tag“ und betonte die Bedeutung der Maßnahme für mehr Bildungsgerechtigkeit und gegen Altersarmut bei Frauen. Auch Kerstin Lampert-Hodgson (SPD) unterstrich die gesellschaftspolitische Dimension: „Wir leisten einen Beitrag gegen den Fachkräftemangel und für mehr Teilhabe.“
Grüne haderten mit einer Entscheidung gegen die Verwaltung
Jens Meier (Grüne) räumte ein, dass die Debatte innerhalb der Mehrheitsgruppe nicht leicht gewesen sei. Man habe eine Staffelung der Beiträge angestrebt, dies aber als „Bürokratiemonster“ verworfen. Wichtig sei, dass „stärkere Schultern mehr tragen“. Volker Bajus (Grüne) wies auf die künftig zu erwartende Unterstützung durch das Land Niedersachsen hin.
Auch FDP/UWG spricht von „Geschenken“ vor der Kommunalwahl
Lukas Ölmann (Volt) sprach von einer „schwierigen Entscheidung“. Trotz Haushaltsbedenken stimmte er dem Ursprungsantrag zu. Ganz anders Wulf-Siegmar Mierke (FDP/UWG), der von einem „verantwortungslosen und realitätsfernen Antrag“ sprach. „Wir können uns diese Geschenke nicht leisten“, so Mierke.
Verwaltung: Bedarf nicht absehbar, Kosten und Personalbedarf aber immens
Sozialdezernent Wolfgang Beckermann stellte klar, dass bei einem Nachfrageanstieg etwa 840 zusätzliche Krippenplätze benötigt würden. Die Baukosten für 56 neue Gruppen beliefen sich auf etwa 56 Millionen Euro. Hinzu kämen jährlich rund 12 Millionen Euro an Betriebskosten. Auch das Personalproblem sei immens. Stadtbaurat Thimo Weitemeyer ergänzte, dass eine bauliche Umsetzung mittelfristig kaum realisierbar sei.
Fazit: Knappe Mehrheit für ein sehr teures Projekt
Trotz heftigem Widerstand, lautstarker Zwischenrufe und der ersten geheimen Abstimmung seit Beginn der Wahlperiode setzten sich SPD, Grüne, Volt und Linke durch. Die Verwaltung ist nun beauftragt, bis zum Kommunalwahljahr 2026 die Beitragsfreiheit umzusetzen und Modelle für eine Beteiligung besonders Wohlhabender vorzulegen. Auch qualitative Verbesserungen sollen geprüft werden. Der Wahlkampf hat begonnen.