Am frühen Freitagabend (30. Mai) schwappt eine ungewöhnliche Vorfreude über den Osnabrücker Domhof. Kein Premierenflor, keine Garderobensteifheit – vielmehr herrscht Festivalstimmung. Neugier, Vorfreude, eine Ahnung von Aufbruch. Es ist der Auftakt der zehnten Ausgabe des Spieltriebe-Festivals vom Theater Osnabrück, das sich, ein wenig leiser als sonst, dafür umso entschlossener neu erfunden hat. Nicht mehr zu Beginn, sondern zum Ende der Spielzeit. Nicht mehr mit fünf Routen, sondern zwei. Weniger Stücke, aber jedes exklusiv. Eine Konzentrierung, die nicht verarmt, sondern verdichtet.
Ein Erfahrungsbericht von HASEPOST-Redaktionsleiter Dominik Lapp
Der „Balkan Express“ als Portal
Der Festivalauftakt führt alle Besucherinnen und Besucher gemeinsam ins Theater am Domhof – eine kluge Setzung, fast wie ein ritueller Beginn. „Balkan Express“ heißt die Produktion, die Intendant Ulrich Mokrusch selbst inszeniert hat. Der Balkan – ein Sehnsuchtsort, ein Pulverfass, eine verlorene Utopie – wird hier zur Bühne eines musikalischen Roadmovies, das sich durch die kulturellen Schichten des ehemaligen Jugoslawiens gräbt: vom blockfreien Hoffnungsträger bis zur zerbombten Realität.

Ein Abend, der nicht erklären will, sondern erinnert. Und das mit Wucht. Wenn Schauspielerin Sascha Maria Icks als Lepa eine serbische Schlagerdiva gibt, wechselt Sentimentalität in Ironie, wenn Opernsänger Jan Friedrich Eggers als Jugo-Boss durch ein Zirkuszelt stampft, trifft Klischee auf Karikatur. Stefan Haschke brilliert als Entertainer zwischen Pathos und Parodie – ein Conférencier im Taumel zwischen Show und Schockstarre, zwischen Nostalgie und Abgrund. Und Susanna Edelmann als Mädchen verleiht dem Abend durch ihre klare Sopranstimme eine fast fragile Emotionalität – ihr Gesang durchschneidet das Treiben wie ein innerer Kompass, der immer wieder zum eigentlichen Kern zurückführt: der Sehnsucht.
Das alles spielt sich in einem Bühnenbild ab, das Timo Dentler entworfen hat: ein Zirkuszelt als theatrale Arche, flirrend zwischen Volksfest und Endzeitvision. Bunt, aber nie beliebig. Die Kostüme von Okarina Peter greifen diese Ambivalenz auf – schrill, verspielt, mitunter bewusst überzeichnet. Es ist diese bewusste Überladung, die dem Stück seine visuelle Kraft verleiht. Eine Art Balkan-Pop-Oper mit Tiefgang, getragen von der Musik – einer wilden Mischung aus Oper, Brass, Pop und Lyrik, genial dirigiert von Daniel Inbal.
Die rote Route: Erinnern im Nebel
Nach dem ersten Kapitel der gemeinsamen Reise trennen sich die Wege – ich wähle die rote Route. Der Bus bringt uns ins Landwehrviertel, ein Ort, der nur auf den ersten Blick unspektakulär wirkt. Vor Baracke 35 erwarten uns die Darstellerinnen und Darsteller bereits singend – eine Einladung in ein Stück Osnabrücker Geschichte, das viele nicht kennen dürften.

Mehr als 5.000 südosteuropäische Offiziere wurden hier während des Zweiten Weltkriegs interniert, viele von ihnen aus Serbien. Das dokumentarische Rechercheprojekt von Demjan Duran macht das Lager wieder begehbar – atmosphärisch, beklemmend, eindringlich. Man folgt Figuren durch Räume, durch Nebel, durch das dumpfe Grollen von Sirenen. Ein Offizier gehorcht den Befehlen, zwei Gefangene wühlen in Brotvorräten nach geheimen Botschaften – und dann, fast unwirklich, wird Bizets „Carmen“ angestimmt. Inmitten des Grauens eine Ahnung von Schönheit. Theater als Widerstand, selbst im Erinnern.
In der Pause dann: Djuvec-Reis, Cevapcici, Ajvar, Linsensalat und Yufka-Taschen. Kulinarische Integration, ganz ohne Exotisierung. Es ist dieser liebevolle Blick auf den Balkan, der das ganze Festival durchzieht – fern von Folklore-Kitsch, nah an Geschichte und Gegenwart.

Sharehouse: Identität als Choreografie
Der zweite Teil der roten Route führt ins Sharehouse – ein kirchlicher Raum, wie geschaffen für das rumänische Tanzprojekt „Balkan Ballerinas“ von Platform 13. Sergiu Diţă, Sofia Sitaru-Onofrei und Andreea Vălean reißen Identitäten auseinander und setzen sie neu zusammen. Hier wird der Körper zur Projektionsfläche für stereotype Zuschreibungen: das Balkan-Girl, die graziöse Ballerina, die schamhafte Osteuropäerin – und jeder nimmt die Kostüme irgendwann wieder ab. Die Choreografie von Anca Stoica und Sergiu Diţă ist ein wütender, witziger, poetischer Aufschrei. Zwischen Folklore und Rave, zwischen Prunk und Punk.
Ein eindrücklicher Abend
Zurück im Theaterhof, zu Balkanbeats und Livemusik, wird getanzt, gegessen, geredet. Die Grenzen zwischen Publikum und Ensemble, Bühne und Straße verschwimmen. Es ist ein würdiger Abschluss für einen Abend, der nicht versucht, den Balkan zu erklären, sondern ihn fühlen lässt., Das neue Spieltriebe-Festival ist kleiner, fokussierter, politischer – und dabei intensiver denn je. Ein Festival, das Mut macht – zum Perspektivwechsel, zur Auseinandersetzung, zum Zuhören. Und vielleicht ist es genau das, was Theater heute braucht, um niedrigschwellig zu sein und auch Menschen anzulocken, die sonst nicht ins Theater gehen. Die nächste und letzte Gelegenheit, es selbst zu erleben, gibt’s am kommenden Wochenende (7./8. Juni). Tickets an der Theaterkasse oder unter www.theater-osnabrueck.de.