Osnabrücks Erfolgstrainer Anton Siemer hatte für die Deutschen
Leichtathletik-Hallenmeisterschaften in der Dortmunder Helmut-Körnig-Halle
ein „Finale furioso“ und „die spannendste Zielgerade der letzten Jahre“
angekündigt. Wie sehr er Recht behalten sollte und in welcher Form,
überraschte ihn dann sogar selbst und machten die 400 m der Männer vor
ausverkauftem Haus zum spannendsten Event des Tages und zu einem, für viele
zu dem Highlight der Titelkämpfe.
75 Jahre nach Hans Zepernick, 1950 Deutscher Meister über 110 m Hürden, sicherte sich wieder ein Osnabrücker den Titel eines Deutschen Meisters bei den Männern. Der 20-jährige Florian Kroll griff wie in der HASEPOST angekündigt nach den Sternen – und avancierte zum jüngsten Titelträger dieser Meisterschaft. Sein größter Konkurrent: ein weiterer Osnabrücker.
Drei Halbfinalläufe
Aber zurück auf Anfang. Samstagmittag. Drei Halbfinalläufe. Im zweiten zeigt
Florian einen beeindruckenden Start-Ziel-Sieg. 46,92 Sekunden – als zweiter
Deutscher in diesem Jahr unterbietet er die 47-Sekunden-Schallmauer. Im
letzten Lauf dann Vereinskollege Fabian Dammermann, bisher als einziger und
mit 46,71 Sekunden deutlich unter dieser Grenze. Der Student der Universität
Münster geht als Favorit an den Start. In einem dramatischen Rennen
unterliegt er knapp dem Berliner Friedrich Rumpf, der nach seiner klaren
Niederlage gegen Fabian an gleicher Stätte Wochen zuvor nun alle taktischen
Finessen auspackt.
Beide Osnabrücker sind im Finale. „Deutschland gegen Osnabrück“, der Slogan des ARD-Kommentators vom Samstag wird nun zu „Berlin gegen Osnabrück“, zwei
Athleten des SCC Berlin haben sich im Halbfinale auf Platz zwei und drei
gelaufen. Erfreuliche Schadensbegrenzung dann bei der Bahnverteilung fürs
Finale. Bahn sechs für Florian („Nicht perfekt, aber kann ich mit leben“),
Bahn vier für Fabian („Zum Glück. Nach der Logik der Bahneinteilung hätte es
auch Bahn eins werden können“). Die Bahnen drei und fünf gehen nach Berlin.
Alles auf Null, alle Chancen gewahrt.
Riesenjubel bei den Osnabrückern
Sonntag, 14.07 Uhr. Ausverkaufte Halle, viele Osnabrücker vor Ort. 400 m-Finale der Männer. Florian und Fabian werden seit dem Eintreffen in der
Halle von einem Kamerateam des NDR begleitet, haben schon die ersten
Interviews hinter sich. Zusätzliche Motivation oder Belastung? Florian
startet wie im Halbfinale, liegt nach 200 m gemeinsam mit dem Berliner Rumpf
vorn, hat aber den Nachteil, in der Kurve außen laufend den längeren Weg
gehen zu müssen. Derweil muss Fabian auf Platz fünf liegend, eingangs der
Kurve fast abbremsen, um eine Kollision zu vermeiden. Die Gegengerade
absolvieren Rumpf und Florian Brust an Brust, von hinten stürmt Fabian
relativ unbemerkt, da nicht im Fernsehbild, mit seiner unnachahmlichen
zweiten Runde heran. Ausgang der Zielkurve, noch 50 m. Die Stimmung in der
Halle ist auf dem Siedepunkt. Rumpf knapp vor Florian, Fabian rückt näher
und näher, ist von der Geschwindigkeit nun deutlich der Schnellste im Feld.
Und hat ein Problem: Wie komme ich an den Zwei vor mir vorbei? Gefragt,
getan. Ein Sidestep nach außen – ein Aufschrei in der Halle und bei den
Kommentatoren. Fabian stürzt, macht eine schmerzhafte Rolle über die
Laufbahn. Hat offensichtlich Florian am Fuß berührt. Der strauchelt, rettet
sich mit windmühlenartigen Armbewegungen gerade noch vor dem Sturz – und
passiert die Ziellinie als Erster. Riesenjubel bei den Osnabrückern. Allein
Florian bleibt ruhig, sein erster Blick geht zurück auf die Laufbahn zu
seinem gestürzten Teamkollegen.

Was folgt, kann man nicht trainieren. Das Blitzlichtgewitter der Fotografen,
dann der Interviewmarathon. ARD, NDR, leichtathletik.de, der eigene
Landesverband – Florian wird von Kamera zu Kamera, von Mikrofon zu Mikrofon
gereicht. Und auch Fabian ist gefragt. Bewundernswert, wie er sich trotz des
Sturzes, trotz der Enttäuschung angenehm und sympathisch präsentiert.
Auffällig bei Beiden: Jeder erwähnt zuerst seinen Trainingskollegen, erst
dann geht es um die eigene Leistung, den eigenen Erfolg.
Die Siegerehrung ist für Florian, aber auch die anwesenden Osnabrücker dann
der emotionale Höhepunkt. Der vielfache 400 m-Europameister Hartmut Weber
überreicht die Medaillen.
Derweil sinniert Trainer Anton Siemer in den Katakomben der
Helmut-Körnig-Halle. Freuen über Florians Titel? Ärgern über Fabians
unglaubliches Pech? Frust über den verpassten Doppelsieg? Ein Auf und Ab der
Gefühle. Feiern mit dem Einen, Ärgern mit dem Andern. Am Ende überwiegt
sicher die riesige Freude über den ersten deutschen Meistertitel seit 75
Jahren für einen Osnabrücker Leichtathleten. Und die kleine Genugtuung,
nicht nur die Dramatik des Finales prognostiziert, sondern auch den
taktischen Ablauf vorhergesehen zu haben. „Wir haben schon seit Wochen das
Szenario des Finals diskutiert und geplant. Dass Florian als Erster auf die
Zielgerade einbiegt, dann Fabian von hinten kommt. Ende offen. Dass nun ein
Sturz das Rennen entscheidet, nennt man dann wohl Schicksal.“