Wenn man sich auf dem Straßenverlauf am Rande der Osnabrücker Altstadt und der südlich davon gelegenen Neustadt bewegt, fallen immer wieder historische Überreste wie Türme oder Mauerstücke auf, die viele Menschen in Osnabrück gut kennen dürften. Ebenso verweisen einige Straßennamen auf ehemals vorhandene Mauer- und Wallabschnitte sowie Stadttore – sei es der Hasetorwall, der Johannistorwall oder die Bocksmauer. Wo es überall noch Überreste von Mauern, Wällen und Türmen zu sehen gibt, welche Geschichte hinter ihnen steckt und was mit dem Rest der Stadtmauer passiert ist, finden wir im Gespräch mit Bruno Switala, dem ehemaligen Leiter der städtischen Denkmalpflege, heraus. Es begleiten uns dabei die Stadtarchäologen Axel Friederichs und Sara Snowadsky, die bestens informiert über die aktuellen archäologischen Grabungen in der Stadt sind.
Historische Befestigung prägt Stadtgestalt
Trotz großer Zerstörungen durch Bombardements der Alliierten im zweiten Weltkrieg ist auch heute noch in Osnabrück das alte Stadtbild ablesbar. Der grob kreisförmige Straßenverlauf um Alt- und Neustadt entspricht dem Verlauf der alten Verteidigungsanlagen, was ja auch an den Straßennamen heute noch zu erkennen ist. „Es gibt kaum eine Situation der Stadtgeschichte, die nicht ablesbar ist“, meint Bruno Switala. Bemerkenswert sei vor allem die Dynamik zwischen Alt- und Neustadt gewesen, die einst von Graben und Befestigung dort, wo jetzt der Neue Graben und Neumarkt verlaufen, voneinander getrennt waren. Die Binnenbefestigungen wurden 1307 abgetragen, was zunächst den Entwicklungen anderer Städte im Mittelalter entsprach, wo ebenso Altstadt und Neustadt zusammenwuchsen. Doch in Osnabrück habe es eine Begegnung auf Augenhöhe gegeben, der mächtigere Rat der Altstadt gewährte den Neustädtern ein Mitbestimmungsrecht bei der städtischen Außenpolitik und beließ ihnen ihre Autonomie. „Der Fall in Osnabrück ist eine Besonderheit“, resümiert Switala. Er sieht hier in gewisser Weise den Anfang der Tradition Osnabrücks als Friedensstadt.

Was der Bucksturm mit Böcken zu tun hat
Der mittelalterliche Bucksturm an Bocksmauer/Natruper-Tor-Wall war einst ungefähr 10 Meter höher. „Die schmalen Schießscharten sind noch nicht auf Kanonen ausgelegt, sondern eher dazu gedacht mit einem Bogen herauszuschießen, vielleicht noch mit einer Armbrust“, ordnet Switala den Turm ein, der gebaut wurde, als Schwarzpulverwaffen noch nicht Teil der Stadtverteidigung waren. Wie der Bucksturm zu seinem Namen gekommen ist, ist nicht abschließend geklärt. Eine Theorie besagt, dass einst ein Bockskopf in einen Stein des Turmes eingemeißelt war. Switala verweist darauf, dass das Schlachthaus in der Nähe war. Könnte dies den Zusammenhang bilden, der Turm, wo in der Nähe der Bock geschlachtet wurde?
1922 wurde an der Fassade ein Kriegerdenkmal für das Infanterie-Regiment „Herzog Friedrich Wilhelm von Braunschweig“ (Ostfriesisches) Nr. 78 angebracht.
Seit 2024 ist der Bucksturm für Besichtigungen gesperrt, weil der historische Bau nicht den modernen Brandschutznormen entspricht, was eine politische Diskussion ausgelöst hatte.

Erstickungsgefahr durch Pulverdampf
Der 1517 bis 1519 erbaute Turm Bürgergehorsam am Hasetorwall verdankt seinen ungewöhnlichen Namen wohl der Tatsache, dass er eine Zeit lang als Gefängnisturm für ungehorsame Bürger genutzt wurde. Switala sagt: „Der Turm ist gut erhalten und deshalb als Denkmal sehr wertvoll.“ Im Gegensatz zum Bucksturm waren zu der Zeit, als der Bürgergehorsam gebaut wurde, Feuerwaffen bereits sehr verbreitet, was bei seiner Konstruktion berücksichtigt werden musste. „Wenn man dann im Inneren stand und die Waffen abgefeuert wurden, entstanden Pulverdämpfe und dann wären die Leute da drin alle jämmerlich erstickt. Deshalb mussten Kamine eingebaut werden, um den Turm zu entlüften“, erklärt Switala die Herausforderungen beim Bau.

Beim Barenturm der nahegelegenen Vitischanze, war die Situation eine andere. Der 1471 erbaute Turm hatte ursprünglich oben eine freie Plattform, von der aus im Dreißigjährigen Krieg die Schweden mit Kanonen beschossen wurden. Die Pulverdämpfe konnten problemlos abziehen. Bei Ausgrabungen im Zuge der Restaurierung der Vitischanze wurden zahlreiche steinerne Kanonenkugeln gefunden und heute verweisen auf der Wiese davor noch die Nachbildungen zweier Kanonen auf die Funktion des Wehrbaus.

Ein Turm zum Schutz der Mühle
Geht man weiter in Richtung Herrenteichswall, stößt man auf den kleinen Pernickelturm, der mindestens aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts stammt. Der Name erinnert an Brot, etwa „Pumpernickel“. Doch von der Anekdote, dass dort einst Brot für die Armen gebacken wurde, hält Switala nicht viel. „Beim Pernickelturm stand eine der drei Hasemühlen und die musste geschützt werden. Für angreifende Feinde waren solche Mühlen immer ein ‚Leckerbissen‘ – zerstörte man sie, konnte man die Verteidiger leicht aushungern“, erklärt Switala die wahrscheinlichere Funktion des Turmes, die sich dann wohl auch im Namen niedergeschlagen hatte. Heutzutage wird der Turm von den Stadtwerken Osnabrück als Pumpwerk genutzt.

Der zugewucherte Plümersturm
Ebenso wie der Pernickelturm war der Plümersturm am Schlosswall in der Nähe des Ratsgymnasiums ein älterer Bau, wohl aus dem 14. oder 15. Jahrhundert. Switala erklärt, warum die späteren Türme eine andere Gestalt hatten: „Die älteren Türme sind noch eckig. Erst später hat man sie rund gebaut, weil man die Erfahrung gemacht hatte, dass so Geschosse besser abprallen.“ Heute wird der Plümersturm durch die Stadtwerke als Trafostation genutzt. Als Switala noch in der Denkmalpflege gearbeitet hatte, hatte man die Stadtwerke lediglich aufgefordert, das Dach von Bewuchs freizuhalten, denn eine nichtinvasive Nutzung wird grundsätzlich befürwortet, da sie den Erhalt der Bauwerke fördert. Mittlerweile ist der Plümersturm zumindest auf einer Seite aber wieder stark von Bewuchs überwuchert, auch auf dem Dach. Benannt wurde der Turm erst im 19. Jahrhundert nach dem Bauaufseher Heinrich Plümer, der angeblich eine kleine Wohnung bezog, die direkt an den Turm angebaut worden war.

Ein Bunker im Neustädter Turm
Der Neustädter Turm wird auch Gesperrter Turm genannt, was laut Switala davon komme, dass er „hochsperrig“ sei. Auf der Seite des gesperrten Turmes war die Stadt deutlich weniger ausgeklügelt befestigt als in der nördlichen Altstadt, da das umliegende sumpfige Gelände die Stadt von dieser Seite ohnehin schwerer angreifbar machte. Der Neustädter Turm markiert eine etwas erhöhte Stelle, an der sich das Johannistor befand, die nicht so sehr durch die natürliche Umgebung geschützt war. So kam der Neustädter Turm auch einmal zum Einsatz, als Frost das Überqueren der sumpfigen Wasserflächen ermöglichte. „Das ging dann solange, bis die Stadt, wie es so häufig in Erzählungen heißt, durch ein Gotteswunder gerettet wurde, indem Gott Tauwetter schickte“, erläutert Switala das anekdotische Ende dieser Episode. Der ehemalige Denkmalpfleger berichtet über die Herausforderungen bei der Restaurierung: „Im zweiten Weltkrieg wurde im Bereich der ersten drei Geschosse ein Luftschutzbunker eingebaut. Bei den Restaurierungsarbeiten waren dann oben 1,40 Meter Bunkerdecke im Weg. Da war zunächst kein Durchkommen. Wir mussten dafür schließlich Spezialisten beauftragen, die mithilfe von Kleinstsprengungen und Presslufthämmern die Bunkerdecke entfernen konnten.“

Die letzten Mauerstücke
Im Gegensatz zu den markanten Türmen sind nur noch wenige Abschnitte der eigentlichen Stadtmauer erhalten. Bei der Rolandsmauer an der gleichnamigen Straße ist unklar, ob sie in Substanz noch rein erhalten ist. Es lässt sich gut erkennen, wie sie an einigen Stellen später von außen verputzt wurde. Mittlerweile befindet sie sich in einem eher ungepflegten Zustand: Sie ist zugewuchert und mit Graffiti verunstaltet. Allerdings dokumentiert sie immer noch den Verlauf der mittelalterlichen Befestigungsgrenze.

Die sogenannte Hohe Mauer war Teil des äußeren Verteidigungssystems, das eigentlich an den meisten Stellen über Wassergräben gelöst war und Feinde daran hindern sollte, sich überhaupt der Stadtmauer zu anzunähern. Allerdings konnte man wegen des starken Gefälles am Westerberg kein Wassergraben angelegt werden, weswegen man am Hang die Hohe Mauer errichtete. So konnten sich vom Berg nähernde Feinde nicht direkt auf die Gebäude der Stadt schießen, zumindest solange, bis die Waffentechnik nicht eine ausreichend große Reichweite entwickelt hatte. Switala verweist auf das Zusammenspiel der Außenmauer mit den anderen Verteidigungsanlagen: „Der Bocksturm dahinter war hoch genug, dass man von dort die Hohe Mauer überblicken konnte.“
An der Hohen Mauer befindet sich heute das Haus auf der Stadtmauer, ein kleiner Fachwerkbau, der als kleinstes Studentenwerk der Welt gilt.

Ausgrabungen an der Hellingsmauer
Früher waren die nur noch stummelartig vorhandenen Türme an der Hellingsmauer wohl deutlich höher. Der nördliche Turm ist aber gut restauriert worden und liegt in den Bischofsgärten. Weiter südlich, direkt neben der Sporthalle des Gymnasiums Carolinum, befindet sich noch ein zweiter Turm, der aber schlecht gepflegt und total überwuchert ist und als Werkzeugschuppen genutzt wird. Wesentlich interessanter sind die Erkenntnisse von Ausgrabungen der Stadtarchäologie in den Jahren 2012 und 2013, die bei diesem Turm gemacht wurden. Die Stadtarchäologen Axel Friederichs und Sara Snowadsky gewähren darüber kurz einen Einblick: Im Boden wurde ein mehrphasiges Segment der ehemaligen Stadtmauer zutage befördert. Ein äußeres älteres Stück aus dem 13. Jahrhundert und ein inneres, das im 15. Jahrhundert zur Verstärkung ergänzt wurde. Das jüngere Mauerfundament ist mittlerweile durch die neue Schulsporthalle überbaut.

Vom Schutzwall zur Promenade
Der Herrenteichswall wurde erst im 16. Jahrhundert auf der anderen Seite des Haseufers angelegt. Auf der uferentgegengesetzten Seite wurde er mit einer Mauer verstärkt. Im 19. Jahrhundert sollte er dann im Zuge der Oststadterschließung eigentlich abgerissen werden, doch wurde er durch die Stiftung des Haarmannsbrunnens am Südende quasi gerettet. Der Wall wurde um 2 bis 3 Meter abgesenkt und zu einer von einer Baumallee gesäumten Promenade umfunktioniert.

Neuer Bau mit alten Steinen
Das 1817 erbaute Heger Tor, auch Waterloo-Tor genannt, ehrt die 1815 in der Schlacht bei Waterloo gegen Napoleon gefallenen Soldaten aus Osnabrück. Obwohl das Tor nicht direkt im Zusammenhang mit der mittelalterlichen Stadtmauer steht, meint Switala: „Dass dort noch alte Bausubstanz der Stadtmauer steht, ist wahrscheinlich, ebenso wie die alte Mauerstruktur. Doch der Tordurchgang war natürlich komplett neu und wahrscheinlich auch die äußere Futtermauer.“ Snowadsky ergänzt: „Es wurde immer nur so viel abgebrochen, wie unbedingt nötig war.“

Die Petersburg – wie vom Erdboden verschluckt
Nur noch durch die Straßennamen An der Petersburg und Petersburger Wall bezeugt ist die einst sternförmige Petersburg am südöstlichen Rand der Neustadt. Es wurde auf Bestreben des neuen katholischen Fürstbischofs Franz Wilhelm von Wartenberg im Jahr 1628 mit ihrer Errichtung begonnen, wobei sie nicht nur als Befestigung gegen äußere Feinde, vor allem die Schweden, dienen sollte, sondern auch zum Durchsetzen der Gegenreformation gegen die vielen Protestanten in Osnabrück. Switala verdeutlicht die Situation am Stadtmodell und zeigt auf das fehlende Stück in der Stadtmauer gegenüber der Festung: „Hier sieht man, die Petersburg war gegen die eigene Stadt gerichtet.“ Er zeigt sich immer noch sichtlich erstaunt darüber, dass direkt nach dem Krieg die aufgebrachten Osnabrücker Bürger die verhasste Festung in nur drei Tagen bis auf die Grundmauern abgetragen haben sollen. Und Wartenberg musste das akzeptieren: Gemäß dem Westfälischen Friedensschluss sollten wieder die Verhältnisse bis 1624 gelten – vier Jahre vor Baubeginn der Petersburg. Zwar ist kein Überrest der Petersburg mehr zu sehen, doch Friedrichs und Snowadsky verraten, dass dort bald vielleicht Grabungen stattfinden könnten. Allerdings erschweren die über das Gelände laufenden Bahngleise und mögliche Weltkriegsbomben im Boden dort die archäologische Aufarbeitung.
Erhalt der Befestigungsanlagen zu jeder Zeit große Anstrengung
„Ich möchte hervorheben, was für eine großartige Leistung der Stadtgemeinschaft es war, für die dauerhafte Instandhaltung der Wehranlagen zu sorgen“, stellt Switala beeindruckt fest. Im 19. Jahrhundert kam es dann allerdings zunehmend zur Entfestigung der Stadt. „Das war nicht nur eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, sondern die Stadtmauer wurde nun als beengend empfunden. Sie galt nicht mehr als Garant der städtischen Freiheit, sondern als Beschränkung dieser“, erläutert Switala. Praktischer Effekt des Wegfalls der Mauern war der Entfall der Torzölle, von denen heute noch das Akzisehaus gegenüber dem Heger Tor zeugt. Heute steht allerdings wieder der Erhalt der noch verbliebenen Anlagen im Mittelpunkt: Nicht nur die Renovierung und Instandhaltung ist wie schon damals eine Herausforderung, sondern vor allem der bürokratische Kampf um den Erhalt des kulturhistorischen Erbes. So manchen Turm habe gerettet, dass ein geplanter Abriss zu teuer gewesen sei. Entscheidend sei aber, dass „genug öffentliches Interesse entsteht, denn die Interpretation des Denkmalschutzgesetzes ist immer Fall- und Personenabhängig“, berichtet Switala aus seinen Erfahrungen in der Denkmalpflege. Als Beispiel nennt er den ersten Denkmaltag in den 1980ern, wo die Stadtbefestigungen im Fokus standen und sich schon damals so viele Leute für die Baudenkmäler interessiert hatten, dass die Veranstaltung geradezu überrannt wurde. Auch heute noch freut sich der ehemalige Denkmalpfleger über das weiterhin große öffentliche Interesse an der Stadtgeschichte Osnabrücks.