Guten Abend,

ich stelle immer wieder mit Erstaunen fest: Es gibt doch viel mehr Wunder zwischen Himmel und Erde als es sich träumen läßt. Die Grünen-Politikerin Elisabeth Scharfenberg, die mir dem Namen nach bisher eher kein Begriff war, hat nun die öffentliche Hand aufgefordert, die anfallenden Kosten für sexuelle Dienstleistungen an alten Menschen, Pflegebedürftigen und Behinderten zu übernehmen. Zu diesem Zweck sollen sogenannte Sexualbegleiter zum Einsatz kommen, die diese Personengruppen bei der Befriedigung ihrer sexuellen Bedürfnisse unterstützen. Das Angebot kann vom Kauf von Kondomen über die Hilfe bei der sexuellen Befriedigung und die Vermittlung von Prostituierten bis hin zum direkten Geschlechtsverkehr an Ort und Stelle reichen. Sexualbegleiter verstehen sich als Dienstleister, die gegen ein entsprechendes Entgelt in einem festgelegten Zeitrahmen unterschiedlichste körperlich-sexuelle Erfahrungen etwa durch erotische Massagen anbieten. In vielen Fällen wird für diese Berufsgruppe auch der Begriff „Sexualassistent“ verwendet, wobei einige Anbieter zwischen diesen Begriffen durchaus unterscheiden: Der Sexualassistent soll ausführen, was der wahlweise alte/pflegebedürftige/behinderte Mensch möchte, mit dem Sexualbegleiter geht der Kunde für eine begrenzte Zeit auch eine emotionale Partnerschaft ein. Die Berufsbezeichnung des Sexualbegleiters bzw. Sexualassistenten ist nicht geschützt, im Prinzip kann sich jeder diesen Titel geben. Je nach Schwere der Aufgabe liegt der Verdienst zwischen 80 bis 120 € pro Stunde. Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, ebenfalls ein Grünen-Politiker, der aber in vielen Fragen quer zu seiner Partei liegt, ist von dem Vorstoß seiner Parteikollegin nicht gerade begeistert und bemerkt dazu auf seiner Facebook-Seite: „Kann man denn als Bundestagsabgeordnete gut gemeinte Ideen nicht einfach mal im Koffer lassen, wenn sie so offensichtlich dazu dienen können, uns als weltfremde Spinner abzustempeln?“

Ich finde, da macht es sich der Herr Palmer ein bißchen zu leicht. In den Niederlanden gibt es zum Beispiel seit einigen Jahren die Möglichkeit, sich als Pflegebedürftiger die Dienste von Sexualassistenten bezahlen zu lassen. Dazu müssen die auf staatliche Unterstützung angewiesenen Betroffenen per ärztlichem Attest nachweisen, sich nicht auf andere Art und Weise befriedigen zu können. In Deutschland wirbt die Beratungsstelle Pro Familia seit Jahren dafür, zu klären, ob sich Ansprüche Einzelner auf Finanzierung der Sexualassistenz durch die Krankenkassen, die Sozialhilfe oder andere staatliche Leistungsträger begleichen lassen könnten. Nach Einschätzung von Sexualexperten (von denen es, zum Beispiel in meiner Bekanntschaft, sehr viele gibt) wünschen sich zahlreiche Männer und Frauen mit Behinderungen sexuelle Dienstleistungen. Selbst demenzkranke Menschen haben teilweise einen stark ausgeprägten Sexualtrieb. So einfach ist die Sache also nicht. Jeder Mensch, ob behindert oder nicht, hat individuelle sexuelle Wünsche. Körperlich oder geistig behinderte Menschen brauchen bei der Umsetzung aber mitunter Hilfe von Dritten. In Artikel 2 des deutschen Grundgesetzes steht: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ Und in Artikel 3 heißt es: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Man mag also ob des Vorstoßes von Frau Scharfenberg zur Kostenübernahme von sexuellen Dienstleistungen für benachteiligten Menschen die Nase rümpfen oder sich angesichts des um sich greifenden Sittenverfalls in diesem unserem Lande reichlich echauffieren: In der Sache selbst gibt es durchaus gute Gründe, den Vorstoß der Dame etwas weitergehend zu durchdenken und zu diskutieren. In Deutschland wird für soviel Blödsinn Steuergeld zum Fenster rausgeschmissen, da könnte es nicht schaden, vor allem alten oder behinderten Menschen den Lebensabend ein wenig zu versüßen. Auch sehe ich arbeitsmarktpolitisch einen interessanten Ansatz, wenn jeder, der sich dazu in der Lage sieht und für berufen hält, von nun an als Sexualassistent oder -begleiter wirken kann. Der Arbeitslosenstatistik würde das sicherlich guttun. Man sollte also nicht jeden Vorschlag gleich verdammen, nur weil er von den Grünen kommt. Zumindest diesen nicht. Als alter Mann weiß ich, wovon ich rede.

Ich wünsche allen HASEPOST-Lesern ein Wochenende, an dem es nichts zu mösern gibt. Die Hoffnung stirbt zuletzt!

Ihr

Justus Möser

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